An welchem Punkt entsteht eine schöpferische menschliche Seele?
Übersetzung eines Beitrags zur Bedeutung des christlich-humanistischen Menschenbildes für die Entwicklung der westlichen Zivilisation.
Die Welt braucht eine Renaissance - keinen Reset. Teil 1. Von David Gosselin
“Und die Menschen gehen und bewundern die Höhen der Gebirge, die gewaltigen Wogen des Meeres, den breiten Fluß der Ströme, den Umfang des Ozeans und den Umlauf der Gestirne, auf sich selbst aber achten sie nicht.”
—Sankt Augustinus, Bischof von Hippo, Confessiones, Liber X, Caputh 8
Die Klage über den unwiederbringlichen Verlust antiker Geheimnisse und Traditionen ist in unserer modernen Zeit oft zu vernehmen, doch mangelt es dem Menschen im 21. Jahrhundert tatsächlich an Geheimnissen? Oder fehlt es vielen heute einfach an der Fähigkeit, das Mysterium der modernen westlichen Zivilisation zu erkennen? Denn was könnte für die Menschen der Antike und ihre Kultur geheimnisvoller und magischer sein als das Wunder, welches der moderne Westen darstellt? Mit seinem zuvor undenkbaren Wohlstand, seiner Kommunikation in Lichtgeschwindigkeit, seiner Fülle an wissenschaftlichen Wundern und der Leistungskraft seiner Industrien dürften weder die glühendsten Atlantiker noch die archaischen Zeitreisenden aus der antiken Welt in der Lage sein, anderes zu glauben als dass unsere Zivilisation in den Bann der mächtigsten Zauberer aller Zeiten geraten ist.
Doch wo ist dieser Zauber tatsächlich entsprungen und was ist die Quelle seiner Macht?
Für manche Menschen ist diese Frage bedeutungslos geworden. Dem Guru des Weltwirtschaftsforums (WEF), Yuval Noah Hariri, zufolge sind Menschen zum Beispiel keine “geheimnisvolle Seelen” mehr, sondern “Tiere, deren Betriebssystem man hacken kann”. Schon bald, so der moderne Jünger von H.G. Wells, würde leistungsstarke KI die Funktion eines neuen Orakels im technologischen Zeitalter übernehmen und den Menschen in nahezu allen Bereichen seiner Leistungskraft übertreffen. Diese “Singularität” werde einen Großteil der Menschheit überflüssig machen und zum Entstehen einer neuen “Klasse der Nutzlosen” (useless class of people) auf der Welt führen.
So prophezeien es uns moderne Transhumanisten und Okkultisten Künstlicher Intelligenz.
Doch was davon ist überhaupt wahr? Und gibt es irgendeine prinzipielle Möglichkeit, die Behauptung, wonach ausgeklügelte Mustererkennung oder komplexe quantitative Analyse mittels Algorithmen den menschliche Verstand werde ersetzen können, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen? Waren die Wunderwerke der Renaissance wie Brunelleschis Kuppel des Doms von Florenz oder Da Vincis “Das letzte Abendmahl” wirklich nur das Produkt einer raffinierten Mustererkennung? Oder gab es in diesen berühmten Meisterwerken, die Wissenschaft und Kunst auf einer grundlegend neuen Ebene verbanden, etwas zwar Ungreifbares, aber dennoch Erfaßbares? Anders ausgedrückt: Wie viele 1en und 0en auch immer der Rechenleistung der KI hinzugefügt werden - an welchem Punkt entsteht eine schöpferische menschliche Seele, die fähig ist, kreative Offenbarungen zu erleben?
Nach Beantwortung dieser Frage, wird der Rest zur Nebensache.
Um die strategische Dimension jener Frage zu erfassen, die von Transhumanisten und KI-Sekten für geklärt gehalten wird, werden wir den magisch transformativen Moment der Goldenen Renaissance Europas noch einmal beleuchten. Im Ergebnis werden wir sehen, dass das Wesen unserer modernen Krise wenig mit einem Mangel an Geheimnissen zu tun hat, sondern - wenn überhaupt - mit dem Nichtbeachten des Mysteriums im Herzen der westlichen Zivilisation.
Die sich wandelnden Bilder vom Menschen
Um uns das Mysterium des modernen Westens wieder bewusst zu machen, sollten wir die oft verschleierte Geschichte der europäischen Goldenen Renaissance betrachten. Ironischerweise wurde der strategische Charakter dieses Wendepunkts von niemand anderem klarer erkannt als von jenen Kräften, die sich der Umformung eben dieses klassischen und jüdisch-christlichen Menschenbildes verschrieben haben, welches die Renaissance überhaupt erst möglich machte.
Die betreffende strategische Einschätzung findet sich in dem entscheidenden Dokument “Changing Images of Man”, das 1982 vom Stanford Research Institute (SRI) veröffentlicht wurde. Wie der Name schon sagt, befassen sich die Autoren mit der Entwicklung des “Selbstbildes” des Menschen, von den archaischen Anfängen Griechenlands bis zum jüdisch-christlichen Menschen der Renaissance.
Die SRI-Autoren schreiben:
Im Gegensatz zur griechischen Vorstellung vom ‘Menschen’ ist der “Mensch” nach jüdisch-christlicher Auffassung im Wesentlichen vom rechtmäßigen Herrn über die Natur getrennt. Diese Sichtweise führte im Mittelalter zu einem rasanten Anstieg des technischen Fortschritts in Westeuropa. Andererseits verhinderten die starken Einschränkungen der scholastischen Methodik und die restriktiven Ansichten der Kirche die Formulierung eines angemessenen wissenschaftlichen Paradigmas. Erst in der Renaissance, als ein neues Klima des Individualismus und der freien Forschung entstand, waren die Voraussetzungen für ein neues Paradigma gegeben.
Interessanterweise wandten sich die Gelehrten der Renaissance den Griechen zu, um die empirische Methode wiederzuentdecken. Die Griechen besaßen eine objektive Wissenschaft von den Dingen ‘im außen’, die D. Campbell (1959) als ‘Epistemologie des Anderen’ bezeichnet. Dies war die grundlegende Vorstellung, dass die Natur von Gesetzen und Prinzipien beherrscht wird, welche entdeckt werden können, und dies war es, was die Gelehrten der Renaissance dann zur Wissenschaft, wie wir sie kennen, weiterentwickelten.
Es sei darauf hingewiesen, dass die fragliche Ivy-League-Einrichtung in Stanford, Kalifornien, ursprünglich Stanford Research Institute hieß. Aufgrund des Skandals, den ihre berüchtigten “Studien zur Aufstandsbekämpfungs für Südostasien”, d. h. die Erforschung sadistischer Bombenangriffe und psychologischer Terrorkampagnen während des Vietnamkriegs und anderer vom angloamerikanischen Establishment geführter Auslandseinsätze, verursacht hatten, wurde es in “SRI” umbenannt. Infolge des öffentlichen Aufschreis und der Anti-Kriegs-Bewegung beschloss das SRI, sich rechtlich von der Stanford University zu trennen, um seine Spitzen-“Forschung” abseits der Öffentlichkeit und neugieriger Blicke fortzusetzen.
Überraschenderweise war diese neu benannte Forschungseinrichtung für ihre innovative mechanische und technische Forschung bekannt, doch ihr Programm “Changing Images of Man” hatte die Schaffung eines neuen “spirituellen” Paradigmas zum Ziel, das als “New Age” oder “Zeitalter des Wassermanns” bekannt wurde.
Dieses Programm sollte die westliche Zivilisation von dem abbringen, was traditionell als “Fortschritt” angesehen wurde, d. h. von der Art der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, die den modernen Wohlstand und die “freie Forschung” ermöglichte. An ihre Stelle würde eine nach innen gerichtete, spiritualisierte Sicht des Menschen treten, die sich auf Selbstverbesserung und evolutionäres “Bewusstsein” konzentriert.
Die SRI-Autoren schreiben:
Das neue Paradigma wird wahrscheinlich eine Art Konzept hierarchischer Bewusstseinsebenen oder Ebenen subjektiver Erfahrung beinhalten. Diese werden in dem Sinne unterscheidbar sein, dass Konzepte und Metaphern, die auf einer Ebene anwendbar sind, nicht unbedingt auf eine andere passen. Sie werden hierarchisch sein, allerdings nicht in dem Sinne, dass eine Ebene auf einer Werteskala höher steht als eine andere, sondern im Sinne einer strukturellen Hierarchie und auch in dem Sinne, dass das Bewusstsein intensiver Momente der Kreativität in einem überprüfbaren Sinne mit einem höheren Bewusstheitsgrad einhergeht als Zeiten ‘normalen Bewusstseins’, und diese wiederum mit einem höheren Bewusstseinsgrad verbunden sind als der Tiefschlaf.
Mit dem Begriff eines Spektrums potenziellen Bewusstseins bezeichnet man die Ausweitung des Spektrums anerkannter ‘unbewusster’ Prozesse (d. h. Prozesse, derer wir uns normalerweise nicht bewusst sind, obwohl die Möglichkeit des direkten Erlebens vorhanden zu sein scheint) auf ein breites Spektrum an berichteten Erfahrungen in den Regionen der kreativen Vorstellungskraft, des ‘kosmischen Bewusstseins’, der ästhetischen und mystischen Erfahrung, der psychischen Phänomene und des Okkulten.
Es wird deutlich, dass es sich um einen Taschenspielertrick handelt, indem der Schwerpunkt von einer grob umrissenen traditionellen Vorstellung von Fortschritt in der äußeren materiellen Welt auf einen inneren ‘spirituellen’ Fortschritt verlagert wird, wobei die sakrale Unantastbarkeit des einzelnen Menschen durch ein kollektives Gaia-zentriertes ‘Bewusstsein’ ersetzt wird:
Die Autoren schreiben:
Die Erwünschtheit dieses Merkmals des neuen Bildes [vom Menschen] beruht auf der Auffassung, dass das eigentliche Ziel aller individuellen Erfahrung die evolutionäre und harmonische Entwicklung des sich herausbildenden Selbst ist (sowohl als Person wie auch als Teil größerer Kollektive), und dass die angemessene Funktion sozialer Institutionen darin besteht, ein Umfeld zu schaffen, welches diesen Prozess fördert. Dies ist die Ethik, die an die Stelle der Ethik des ‘Herrn über die Natur’ und der Ethik von materiellem Wachstum und Konsum treten muss, auf die ein großer Teil der Probleme des Menschen zurückzuführen sind. In dem Maße, in dem sich der Mensch zunehmend mit den rein materiellen Aspekten der Ausbeutung und Kontrolle der Natur zu egoistischen Zwecken auf einem verletzlichen und endlichen Planeten beschäftigte. Auf einem solchen Planeten kann dem die Verfolgung solcher Ziele selbstmörderisch sein.
So ist es bei vielen üblich geworden, Technologie und Wissenschaft als eine Art unnatürliche, dämonische Kraft in der modernen Welt zu betrachten, im Gegensatz zur reinen und befreienden Kraft der Natur. Die Ironie dabei ist, dass die Kräfte von Magna Mater, Gaia und Kronos (Saturn) - Mutter Natur und die alles verschlingende Zeit - traditionell als ziemlich gnadenlos und gleichgültig gegenüber der Notlage einer schwachen Menschheit angesehen wurden. Dagegen war der das Feuer bringende Titan Prometheus die mitfühlende Figur, die zur Verteidigung der Menschheit kam, seine eigenen Interessen und seine Macht opferte, um die Menschheit aus dem rückständigen Zustand zu befreien, den ihr der Sohn des Saturn, Zeus, und sein olympischer Clan auferlegt hatten.
Obwohl das Thema oft in die Abteilung der klassischen Mythologie verwiesen wird, könnte hinter einigen dieser Mythen mehr historische Substanz stecken, als manche Experten vermuten. Im Beitrag “Prometheus und Europa” des Schiller-Instituts wird beispielsweise der wahrscheinliche historische Hintergrund für die später mythologisierte Geschichte des Prometheus wie folgt beschrieben:
Vor ungefähr 12 000 Jahren, wenn nicht noch etwas früher, gründeten Siedler, die vom Atlantik mit einer Flotte heransegelten, im Gebiet des heutigen Marokko, d.h. in der Nähe der Straße von Gibraltar und nahe dem Atlasgebirge, eine Kolonie. Die Siedler fanden eine relativ primitive Kultur vor, die der antiken Berber, denen sie landwirtschaftliche Kenntnisse beibrachten und die sie zu ihren Untertanen machten. Nach einiger Zeit taten sich die Söhne einer königlichen Konkubine namens Olympia zu einer Verschwörung zusammen, um den Tyrannen zu töten und selbst die Macht zu übernehmen. Der Rädelsführer dieser rebellischen Söhne der Olympia war Zeus.
Prometheus hingegen war einer der legitimen Anwärter auf den Thron der Kolonie. Zunächst verbündet mit den Olympiern, die sich gegen die Tyrannei auflehnten, kämpfte er dann gegen die neue brutale Tyrannei, welche die Söhne der Olympia den Berbern aufzwangen, nachdem sie ihren eigenen Vater bestialisch umgebracht hatten.
Die Seevölker-Kolonie im Atlas-Gebiet, in der sich diese Ereignisse abspielten, dehnte ihren kulturellen Einfluß im ganzen Mittelmeerraum aus und wirkte dabei u.a. auch an der Gründung Ägyptens vor ungefähr 10 000 Jahren mit.
(…)
Diese Ereignisse im Atlas-Gebiet der Antike und der politische Kampf zwischen Prometheus und den Olympiern haben in vielfältiger Form auf den Verlauf der nächsten Jahrtausende eingewirkt und tauchten als heidnische Mythologie des Olymp wieder auf, wie sie u.a. in den Gesängen des Homer reflektiert werden.
Aus Gründen, die nach diesem einleitenden Abschnitt sehr viel deutlicher zutage treten werden, wurde der Versuch, das historisch an Prometheus orientierte jüdisch-christliche Menschenbild, wie es sich in der Renaissance herausgebildet hat, von keinem Geringeren als dem derzeitigen jesuitisch geschulten Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, formuliert.
In seiner Enzyklika Laudato Si von 2015 schreibt Franziskus:
Eine unangemessene Darstellung der christlichen Anthropologie konnte dazu führen, eine falsche Auffassung der Beziehung des Menschen zur Welt zu unterstützen. Häufig wurde ein prometheischer Traum der Herrschaft über die Welt vermittelt.
Eine unzureichende Darstellung der christlichen Anthropologie hat zu einem falschen Verständnis der Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt geführt. Oft wurde eine prometheische Vision von der Beherrschung der Welt weitergegeben.
Der Ordensmann der Gesellschaft Jesu, Papst Franziskus, formuliert genau das Thema, mit dem sich das SRI befasst, mit dem gemeinsamen Ziel, eine stärker gaia-zentrierte oder ‘grüne’ Sichtweise sowohl innerhalb als auch außerhalb der christlichen Welt zu fördern. So beginnt die Enzyklika von Franziskus aus dem Jahr 2015 mit dem Gebet:
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter. Diese Schwester schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter zufügen.
Für die SRI und die mit ihr verbundenen okkultistischen, gnostischen und geheimdienstlichen Operationen, die sich als religiöse Orden ausgeben, einschließlich der Gesellschaft Jesu, der Templer, der Ritter vom Hl. Grab zu Jerusalem usw., sollte sich das Aufkommen dieser neuen anti-prometheanischen Ethik als sogenanntes “Neues Zeitalter” (New Age) oder “Zeitalter des Wassermanns” verkünden, als ein neuer “nachhaltigerer” Gesellschaftsvertrag, wie er kürzlich als “Terra Carta“ von King Charles, einem führenden Sprachrohr des WEF, propagiert wurde. In wirtschaftlicher Hinsicht sollte das SRI dies als Zeitalter der “Neuen Knappheit” bezeichnen, während die transhumanistisch orientierten KI-Okkultisten des WEF von einer “Kreislaufwirtschaft” sprechen. Das einzige Problem ist, dass dieses “neue Paradigma” und das damit verbundene Menschenbild nur wenig Neues beinhalten sollte. Vielmehr sollte es dazu dienen, sehr alte, archaische und gnostische Ansichten wiederzubeleben.
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