Vom Optimismus: Loblied auf die Dunkelheit
Helen Keller: "Daher ist mein Optimismus auch keine naive und unreflektierte Weltvergessenheit"
Nachfolgende Übersetzung erscheint mit freundlicher Genehmigung der Autorin, Cynthia Chung,
.“Mein Optimismus ist also keine milde und unvernünftige Weltvergessenheit. Ein Dichter sagte einmal, ich müsse glücklich sein, weil ich nicht die nackte, kalte Gegenwart sehe, sondern in einem schönen Traum lebte. Ich lebe in einem schönen Traum; aber dieser Traum ist die Wirklichkeit, die Gegenwart – nicht kalt, sondern warm; nicht kahl, sondern mit tausend Segnungen ausgestattet. Das Böse, von dem der Dichter annahm, dass es eine grausame Enttäuschung wäre, ist notwendig für die volle Erkenntnis der Freude. Nur durch die Begegnung mit dem Bösen war es mir möglich, die Schönheit der Wahrheit, der Liebe und des Guten im Kontrast dazu zu spüren.”
— Helen Keller “Optimismus. Ein Glaubensbekenntnis”
Das Vorhaben, einen Aufsatz zu verfassen, der sich auf Optimismus als Hauptthema konzentriert, geht oft mit einer doppelten Befürchtung einher, anschließend von einer zornigen Menge gesteinigt oder von Kritikern aus der „bürgerlichen Gesellschaft“ als unverbesserlicher und gefährlicher Narr ins Exil verbannt zu werden, ausgehend von der Überzeugung, dass diejenigen, die dumm genug sind, einen solchen Weg einzuschlagen, ebenso tragisch wie unabwendbar ihrem eigenen Verderben entgegen gehen, weshalb jeder, der von solch krankhaftem Wahn befallen, auf sichere Distanz gehalten werden muss ... da die Möglichkeit besteht, dass die Krankheit ansteckend ist.
Nun, ich muss Sie, liebe Leserin, lieber Leser, bevor sie weiterlesen informieren, dass ein solcher Zustand in der Tat höchst ansteckend ist. Seien Sie also gewarnt!
Solch ein verrufener Optimismus erinnert mich an Platons Dialog „Gorgias“, in dem Sokrates (nun in seinen älteren Jahren) von Kallikles verspottet wird, weil er in seinem hohen Alter noch Philosoph ist:
Kallikles: “Mit der Wahrheit also verhält es sich so; das wird dir klar werden, wenn du der Philosophie nun endlich entsagst und dich wichtigeren Dingen zuwendest. Denn die Philosophie, mein Sokrates, hat in der Tat einen gewissen Reiz, wenn man sich in der Jugend maßvoll mit ihr befaßt. Wenn man aber länger als nötig sich mit ihr abgibt, so ist sie der Verderb der Menschen. Denn wenn einer auch bei noch so hoher Begabung das Studium der Philosophie noch lange im Leben weiter treibt, so ist die notwendige Folge, daß er unbekannt bleibt mit allem, was derjenige kennen muß, der ein Mann von Stellung und Ansehen werden will. Denn diese Leute bleiben unbekannt mit den im Staate geltenden Gesetzen sowie mit den Mitteln der Rede, deren man sich im privaten und öffentlichen Geschäftsverkehr mit den Menschen bedienen muß, ingleichen auch mit den menschlichen Freuden und Leidenschaften und überhaupt vollständig unbekannt mit der Sinnesart der Menschen. Wenn sie also in die Lage kommen irgendwelches persönliche oder staatliche Geschäft zu erledigen, machen sie sich lächerlich, ganz so, wie umgekehrt die Staatsmänner sich lächerlich machen, wenn sie etwa bei euren Übungen und Verhandlungen sich einfinden wollten.
Von Philosophie soviel zu verstehen, als die Bildung fordert, ist eine löbliche Sache und in jungen Jahren sich mit Philosophie zu beschäftigen ist keine Schande. Wenn der Mensch aber schon älter wird und immer noch Philosophie treibt, so macht er sich, mein Sokrates, allmählich lächerlich. Mir geht es gegenüber den der Philosophie Beflissenen ähnlich wie gegenüber den Stammelnden und sich kindisch Gebärdenden. Denn wenn ich ein Kind, dem seine Unfertigkeit im Sprechen noch wohl ansteht, stammeln und sich kindisch anstellen sehe, dann habe ich meine Freude daran und es scheint mir lieblich und unbefangen und entsprechend dem Alter des Kindes, während, wenn ich es sich völlig deutlich ausdrücken höre, dies für mein Gefühl etwas Unbehagliches hat; es beleidigt mein Ohr und erinnert mich an sklavische Sinnesart. Wenn man aber einen Mann stammeln hört und sich kindisch gebärden sieht, so erscheint das lächerlich und unmännlich und man möchte zum Stocke greifen. Ebenso nun geht es mir mit den Philosophiebeflissenen. Wenn ich bei einem noch heranreifenden Jüngling philosophischen Trieb wahrnehme, so macht mir das Freude und scheint mir am Platze zu sein, und ich halte den Betreffenden für einen Menschen von edler und freier Sinnesart, den der Philosophie Abholden aber für einen unedlen Menschen, der sich niemals irgendeiner schönen und edlen Aufgabe gewachsen fühlen wird. Wenn ich aber nun einen Älteren noch mit der Philosophie beschäftigt sehe, so daß er sich nicht davon losmachen kann, so scheint mir für diesen Mann der Stock am Platze zu sein, mein Sokrates. Denn solch ein Mensch verfällt, wie eben bemerkt, mag er auch noch so begabt sein, unausbleiblich der Unmännlichkeit, da er die Brennpunkte des öffentlichen Lebens und die Märkte meidet, wo, wie der Dichter sagt (Il. 1, 441), die Männer ihre Trefflichkeit bewähren, und es trifft ihn das Schicksal, in stiller Zurückgezogenheit in einem Winkel flüsternd mit drei oder vier Bürschchen sein weiteres Leben zuzubringen; ein freies und lautes und keckes Wort kommt aber niemals über seine Lippen.”
Für Kallikles ist die Philosophie ein akzeptabler, ja sogar notwendiger Teil unserer Entwicklung in der Jugend, um Edelmut zu erlangen. Sie wird jedoch plötzlich zu etwas Abscheulichem, wenn sie im Erwachsenenalter praktiziert wird, und ist im Alter absolut widerlich anzusehen, so sehr, dass Kallikles angibt, er verspüre den Wunsch, eine solche Person (gemeint ist Sokrates) zu schlagen, weil sie nach Schwäche und Verweichlichung stinke, die er nicht ausstehen könne.
In diesem Sinne teilt der Optimismus ein ähnliches Schicksal mit der Philosophie. Auch der Optimismus wird bei einem kleinen Kind als etwas Bezauberndes und Wunderbares angesehen, und wenn das Kind von seinem Gegenteil durchdrungen wäre und vor allem zynisch wäre, würden wir denken, dass etwas ganz und gar nicht stimmt.
Bemerkenswert ist, dass man es als normal ansieht, wenn Erwachsene eher zynisch als optimistisch sind und sich diese Kluft mit zunehmendem Alter noch weiter vergrößert. Es ist sogar so, dass wir im Laufe unserer Erwachsenenjahre meist gar keine Vorstellung mehr davon haben, was überhaupt Optimismus ist. Er ähnelt eher einer Fata Morgana, einem Traum, als etwas Greifbarem und Realem, oder wir verbannen ihn bestenfalls in den Bereich „mentaler Einstellung“, in dem man vielleicht graduell an sich arbeiten kann, mehr aber auch nicht. Die meisten Menschen kommen “in der Blüte ihres Lebens” zu dem Schluss, dass Optimismus in der Welt hat, in der wir leben, nichts bewirkt – er kann keine Kriege beenden, Armut lindern oder die Gesellschaft gerechter machen. Niemand beginnt zunächst bei sich, um sich an eine optimistische Zukunft anzupassen, die noch bevorsteht. Der Normalbürger ist “Pragmatiker” und ändert sich nur, wenn er etwas davon hat. “Wer kauft denn schon gerne die Katze im Sack?“
Wenn dies aber wirklich der Stand der Dinge ist und die Welt von egoistischem Kalkül regiert wird, warum ermutigen wir dann unsere Kinder, zu träumen, an das Gute zu glauben, sich der Ungerechtigkeit zu widersetzen und die Tugend in der Welt, in der sie leben, zu verteidigen? Warum erzählen wir unseren Kindern epische Geschichten von Heldentum und dem Überwinden von Widrigkeiten und rufen dabei eine wilde, lebhafte Fantasie von Fantastischem über Fantastischem hervor? Warum tun wir so etwas, wenn die Welt, in die sie eintreten werden, wirklich hässlich, kalt, einfallslos, unbarmherzig und letztlich unveränderlich ist? Bereiten wir so die Seelen unserer Kinder nicht darauf vor, gequält und gebrochen zu werden? Werfen wir sie so nicht dem Ungeheuer zum Fraß vor? Warum sollte man in der Jugend etwas kultivieren, dessen Anwendung im Erwachsenenalter man ablehnt, warum also unschuldige Opfer zu einem qualvollen Leben verdammen?
Es ist eine schreckliche Sache, eine lebhafte Fantasie zu fördern, nur um sie zu ersticken, wenn sie bereit ist, ihre Windungen zu veredeln und zu hinterfragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und nicht anders.
In Wahrheit macht uns der Anblick eines Kindes im Moment zu Optimisten. Ein Kind ist einer der kraftvollsten Gegenbeweise einer zynischen Sichtweise auf das Schicksal der Menschheit, denn ein Kind ist voller Liebe, unstillbarer Neugier und Abenteuerlust und ein natürlicher Rebell gegen alles Autoritäre. Daher sind viele klassische Kindergeschichten nicht als etwas zu verstehen, das nur für Kinder geschrieben wurde, sondern vielmehr als etwas, das in der Gegenwart eines kindlichen Geistes verfasst wurde. Es ist also das Kind, das das archaische Relikt der Vorstellungskraft in jenen Erwachsenen wiedererweckt, die „zuhören“ und die geheime Sprache der kindlichen Vorstellungskraft „wiederentdecken“ können.
Wir sollten uns also fragen, warum wir an eine Welt des Guten und der Tugend glauben, wenn wir uns als Erwachsene gestatten, wieder in die Vorstellungskraft eines Kindes einzutauchen. Ist das ein entwicklungspsychologischer Rückschritt? Läuft eine solche Person vor der Realität davon, einem Schwachsinnigen gleich; völlig dysfunktional und daher für die Gesellschaft nutzlos?
Wie Kallikles sagte, welchen Nutzen hat Philosophie als „Beruf“? Welchen Beitrag kann die Philosophie in der Welt der Erwachsenen leisten? Kallikles war auch der Überzeugung, dass die Herrschaft des Höherstehenden über den Niedrigerstehenden, des Starken über den Schwachen, gerecht sei. Obwohl sich unsere Gesellschaft in vieler Hinsicht von der von Kallikles im alten Athen unterscheidet, ist sie diesbezüglich bemerkenswert ähnlich.
In unserer Welt werden Geld und Einfluss genauso wie zu Kallikles' Zeiten als das angesehen, was Macht ausmacht und „die Welt am Laufen hält“ .
“Wenn ich [ein Kind] sich völlig deutlich ausdrücken höre, [hat] dies für mein Gefühl etwas Unbehagliches; es beleidigt mein Ohr und erinnert mich an sklavische Sinnesart.”
Interessanterweise ist das, was Kallikles in der Entwicklung eines Kindes als edel ansieht, genau das, was er in späteren Jahren mit einem hörigen Sklaven verbindet. Der Grund dafür ist, dass Kallikles einen „echten Mann“ mit einem Mann gleichsetzt, der Macht beansprucht. Ein Kind spielt in der Philosophie als ‘Übung für den Geist’, aber es wird erwartet, dass es diese Form des ‘Spiels’ aufgibt, wenn es erwachsen wird, und seine Lektionen nur noch im Streben nach Macht nutzt. In den Augen von Kallikles ist jeder, der nicht nach Macht strebt, schwach und weibisch und lebt eher in der Sklaverei als in der Freiheit; denn die Mächtigsten seien die Freiesten, während die Versklavtesten jene seien, die absolut machtlos sind.
Doch was wäre, wenn Geld und Einfluss nicht der ultimative Maßstab für Macht wären? Was wäre, wenn wahre Macht woanders liegt? Müssten wir dann nicht auch zu dem Schluss kommen, dass dort, wo diese wahre Macht liegt, auch die bestimmende Kraft der Welt sein muss, in der wir leben, welche letztlich unseren eigenen Charakter formt?
Aus der undurchdringlichen, unvorstellbaren Dunkelheit kamen wir
“Dann kam die Liebe, in ihrer Hand
Die Fackel, die meinen Füßen den Weg leuchtet,
Und leise sprach die Liebe: „Hast du
betreten die Schätze der Dunkelheit?
Hast du beschritten die Schätze der Nacht?”
— Loblied auf die Dunkelheit (ein Auszug aus dem Gedicht von Helen Keller)
Die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage suchen wir bei einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten: Helen Keller.
Helen Keller wurde am 27. Juni 1880 in Tuscumbia, einer kleinen Stadt im Norden Alabamas, geboren. Etwa neunzehn Monate später, im tristen Monat Februar, erkrankte Helen an einer akuten Unterleibs- und Hirnhautentzündung. Helen beschreibt dies in ihrer Autobiografie „Geschichte meines Lebens“ wie folgt:
Der Arzt hatte mich schon aufgegeben. Eines Morgens verließ mich jedoch das Fieber auf ebenso plötzliche und geheimnisvolle Weise, wie es ausgebrochen war. Es herrschte an jenem Morgen große Freude in der Familie, allein niemand, selbst der Arzt nicht, hatte eine Ahnung davon, daß ich niemals wieder sehen oder hören sollte.Ich glaube, ich habe noch verworrene Erinnerungen an diese Krankheit. Namentlich entsinne ich mich der Zärtlichkeit, mit der mich meine Mutter in meinen wachen, qualvollen Stunden überhäufte, und der entsetzlichen Angst, mit der ich[S. 8] nach einem unruhigen Halbschlummer erwachte und meine, ach so heißen und trockenen Augen nach der Wand kehrte, hinweg von dem einst so geliebten Tageslicht, das von Tag zu Tage trüber und matter zu mir drang. Aber abgesehen von diesen verschwommenen Erinnerungen, wenn sie überhaupt noch Erinnerungen genannt werden können, erscheint mir alles völlig traumhaft wie ein Alp. Nach und nach gewöhnte ich mich an die mich umgebende Stille und Dunkelheit und vergaß, daß ich jemals ein anderes Los gehabt hatte, bis sie kam — meine Lehrerin —, die meinen Geist befreite. Aber während der ersten neunzehn Monate meines Lebens hatte ich einen Schimmer von breiten, grünen Feldern, einem strahlenden Himmel, Bäumen und Blumen erhascht, den die nachfolgende Dunkelheit nicht ganz verlöschen konnte. Haben wir einmal gesehen, so „ist der Tag unser, und was der Tag gezeigt hat“.
Etwa fünfeinhalb Jahre lang wuchs Helen in völliger Dunkelheit und Stille auf, ohne die Möglichkeit, Informationen über ihre Umgebung zu sammeln oder sich mitzuteilen, abgesehen von den grundlegenden Bedürfnissen. Sie lebte von einem Moment zum nächsten, ihre Welt war geprägt von einem Wirbelsturm roher Emotionen, von euphorischer Freude, wenn sie bekam, was sie wollte, bis hin zu wütender Raserei in Form von wildem Schreien und Treten, wenn sie es nicht bekam.
Helen beschreibt einen dieser Wutanfälle, der beinahe zum Tod ihrer jüngeren Schwester geführt hätte:
“[E]ines Tages entdeckte ich, daß meine kleine Schwester friedlich in der Wiege schlummerte. Bei dieser Anmaßung von seiten jemandes, mit dem mich noch kein Band der Liebe verknüpfte, wurde ich wütend. Ich stürzte auf die Wiege zu und warf sie um, und das Kind hätte tot sein können, hätte meine Mutter es nicht im Falle aufgefangen. Ein solcher Ausbruch kommt daher, daß, wenn wir in dem Tale doppelter Einsamkeit wandeln, wir wenig von den zärtlichen Empfindungen wissen, die aus liebevollen Worten und Handlungen sowie aus dem Zusammensein mit anderen emporsprießen. Später jedoch, als ich zum Bewußtsein meines Menschentums erwacht war, schlossen wir, Mildred und ich, uns auf das engste aneinander an und waren glückselig, wenn wir Hand in Hand miteinander gehen konnten, wohin wir gerade Lust hatten, obgleich sie meine Zeichensprache und ich ihr kindliches Geplauder nicht verstehen konnte.”
Helen lebte auf diese Weise, in einem fast wilden Zustand, bis sie ihre Lehrerin Anne Sullivan traf, die vom Perkins Institute für Blinde geschickt wurde. Glücklicherweise hatte Helens Mutter von Charles Dickens' „American Notes“ von dem Institut gehört, in dem Laura Bridgman, die erste dokumentierte taubblinde Person, die jemals eine Ausbildung erhalten hatte, unterrichtet wurde.
Helen war ein widerspenstiges Kind und hatte es faustdick hinter den Ohren. Am ersten Tag, als Anne Sullivan auf ihrem Hof ankam (sie sollte im selben Haus wie Helens Lehrerin wohnen), gelang es Helen, Anne Sullivan in ihrem Zimmer einzuschließen und den Schlüssel zu verstecken. Kein noch so großer Ärger konnte Helen dazu bewegen, den Ort des Schlüssels preiszugeben, und ihr Vater musste Anne durch das Schlafzimmerfenster und über eine Leiter aus ihrem Zimmer helfen. Helen gab den Schlüssel erst Monate später wieder heraus.
Wie Helen es selbst beschreibt, gab es in ihrer „stillen, dunklen Welt ... keine starken Gefühle oder Zärtlichkeit.“ Helen konnte in diesem Zustand nichts lieben, denn sie hatte keine Verbindung zur Welt der Gedanken, der Ideen. Die Welt von Helen war eine ungeduldige Welt der Wünsche und Enttäuschungen. Wie konnte man geduldig sein, wenn man nicht einmal eine Vorstellung von einem Tag hatte, geschweige denn von den Schätzen der Vergangenheit und den Reichtümern der Zukunft?
Anne Sullivan war zunächst damit beschäftigt, Helen die Gebärden für Gegenstände im Haus beizubringen. Zunächst amüsierte sich Helen über das neue Spiel und war begierig darauf, die Handzeichen zu lernen, wurde jedoch bald dessen überdrüssig, da sie vermutete, dass es sich eher um eine Pflichtübung als um ein echtes Spiel handelte. Helen war besonders frustriert darüber, dass es ein Wort für Tasse und ein anderes Wort für das Wasser in der Tasse geben sollte. Für Helen war es völlig einleuchtend, dass das Wasser in der Tasse auch Tasse genannt werden sollte. Die Übung wurde auf einen anderen Tag zurückgestellt.
Am nächsten Tag wurde Helen wütend, als Anne versuchte, zur Übung über ‘Tasse’ und ‘Wasser’ zurückzukehren, und sie schleuderte die Puppe fort, die ihr am Tag von Annes Ankunft geschenkt worden war (Helen erfuhr erst viel später, dass sie von den blinden Mädchen im Perkins-Institut unter Mühen hergestellt worden war). Sie beschreibt die Situation wie folgt:
“Bei ihren wiederholten Versuchen wurde ich ungeduldig, ergriff die neue Puppe und schleuderte sie zu Boden. Ich empfand eine lebhafte Schadenfreude, als ich die Bruchstücke der zertrümmerten Puppe zu meinen Füßen liegen fühlte. Weder Schmerz noch Reue folgten diesem Ausbruch von Leidenschaft. Ich hatte die Puppe nicht geliebt. In der stillen, dunklen Welt, in der ich lebte, war für starke Zuneigung oder Zärtlichkeit kein Raum. Ich fühlte, wie meine Lehrerin die Bruchstücke auf die eine Seite des Kamins fegte, und empfand eine Art von Genugtuung darüber, daß die Ursache meines Unbehagens beseitigt war. Fräulein Sullivan brachte mir meinen Hut, und ich wußte, daß es jetzt in den warmen Sonnenschein hinausging. Dieser Gedanke, wenn eine nicht in Worte gefaßte Empfindung ein Gedanke genannt werden kann, ließ mich vor Freude springen und hüpfen.
Wir schlugen den Weg zum Brunnen ein, geleitet durch den Duft des ihn umrankenden Geißblattstrauches. Es pumpte jemand Wasser, und meine Lehrerin hielt mir die Hand unter das Rohr. Während der kühle Strom über die eine meiner Hände sprudelte, buchstabierte sie mir in die andere das Wort water, zuerst langsam, dann schnell. Ich stand still, mit gespannter Aufmerksamkeit die Bewegung ihrer Finger verfolgend. Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß water jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete ihr Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln! Zwar waren ihr immer noch Schranken gesetzt, aber Schranken, die mit der Zeit hinweggeräumt werden konnten.
Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern. Dies kam daher, daß ich alles mit dem seltsamen neuen Gesicht, das ich erhalten hatte, betrachtete. Beim Betreten des Zimmers erinnerte ich mich der Puppe, die ich zertrümmert hatte. Ich tastete mich bis zum Kamin, hob die Stücke auf und suchte sie vergeblich wieder zusammenzufügen. Dann füllten sich meine Augen mit Tränen; ich erkannte, was ich getan hatte, und zum erstenmal in meinem Leben empfand ich Reue und Schmerz.”
Es ist sehr bemerkenswert, dass Helen ihre erste Erkenntnis, dass es so etwas wie Sprache gibt, als eine unmittelbare Verbindung beschrieb, ein unmittelbares Verständnis dafür, dass es so etwas wie Gedanken gibt, die den Gebrauch von Sprache erfordern, um nicht nur mit anderen, sondern auch mit uns selbst in Form eines inneren Dialogs zu kommunizieren. Nicht nur das, sondern Helen schreibt ihrem neuen Bewusstsein für das Denken auch zu, dass sie dadurch fast unmittelbar Zugang zu dem Gefühl von Reue und Trauer hatte.
Helen erzählt, wie sie kurz darauf das Konzept der Liebe verstand:
“Ich erinnere mich noch ganz genau des Morgens, an dem ich zum ersten Male nach der Bedeutung des Wortes »Liebe« fragte. Es geschah dies, als ich erst wenige Wörter kannte. Ich hatte ein paar frühe Veilchen im Garten gefunden und brachte sie meiner Lehrerin. Sie versuchte mich zu küssen; aber damals liebte ich es noch nicht, daß mich jemand außer meiner Mutter küßte. Fräulein Sullivan legte zärtlich ihren Arm um mich und buchstabierte mir in die Hand: Ich liebe Helen.
Was ist Liebe? fragte ich.
Sie zog mich näher zu sich heran und sagte: Sie ist hier drinnen, indem sie auf mein Herz deutete, dessen Schläge ich jetzt zum ersten Male fühlte. Ihre Worte befremdeten mich auf das äußerste, weil ich damals noch nichts verstand, wenn ich es nicht zugleich berührte.
Ich roch die Veilchen in ihrer Hand und stellte, halb in Worten, halb in Zeichen eine Frage, deren Sinn ungefähr war: Ist Liebe der Duft der Blumen?
Nein, erwiderte meine Lehrerin.
Wiederum dachte ich nach. Die Sonne erwärmte uns mit ihren Strahlen. Ich fragte, indem ich nach der Richtung deutete, aus der die Wärme kam: Ist dies nicht Liebe?
Es schien mir, als könne es nichts Schöneres geben als die Sonne, deren Wärme alles zum Wachsen und Blühen brachte. Aber Fräulein Sullivan schüttelte den Kopf, und ich war sehr verwundert und enttäuscht. Ich hielt es für seltsam, daß meine Lehrerin mir nicht die Liebe zeigen konnte.
Einige Tage später reihte ich Perlen von verschiedener Größe in regelmäßigen Gruppen auf — zwei große, drei kleine und so weiter. Ich hatte mehrmals Fehler gemacht, und Fräulein Sullivan hatte mich mit liebevoller Geduld immer[S. 30] und immer wieder darauf hingewiesen. Endlich bemerkte ich einen ganz offenbaren Irrtum in der Aufeinanderfolge, und einen Augenblick konzentrierte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf mein Vorhaben und versuchte nachzudenken, wie ich die Perlen hätte aneinanderreihen sollen. Fräulein Sullivan berührte meine Stirn und buchstabierte mit großem Nachdruck: Denke!
Im Nu erkannte ich, daß das Wort die Bezeichnung für den Vorgang war, der sich in meinem Kopfe abspielte. Dies war meine erste bewußte Vorstellung eines abstrakten Begriffs.
Eine lange Zeit saß ich still da — ich dachte nicht über die Perlen in meinem Schoße nach, sondern versuchte, im Lichte dieses neuen Begriffes die Bedeutung von »Liebe« zu ergründen. Die Sonne war den ganzen Tag hinter Wolken versteckt gewesen, und es waren kurze Regenschauer gefallen; plötzlich brach jedoch die Sonne in all ihrem südlichen Glanze hervor.
Abermals fragte ich meine Lehrerin: Ist dies nicht Liebe?
Liebe ist etwas Aehnliches wie die Wolken, die am Himmel standen, bevor die Sonne hervorbrach, entgegnete sie. Dann fuhr sie in schlichteren Worten, als die vorhergehenden waren, die ich damals noch nicht verstehen konnte, fort: Du weißt, du kannst die Wolken nicht berühren, aber du fühlst den Regen und weißt, wie froh die Blumen und die durstige Erde sind, wenn er nach einem heißen Tage auf sie herniederströmt. Auch die Liebe kannst du nicht berühren, aber du empfindest das Entzücken, das sie über alles ausgießt. Ohne Liebe würdest du weder glücklich sein noch zu spielen verlangen.
Mit einem Schlage offenbarte sich die wohltuende Wahrheit meinem Geiste — ich fühlte, es gab unsichtbare Bande, die sich zwischen meiner Seele und den Seelen anderer hinzogen.”
Das ist erneut unglaublich beeindruckend. Helen beschreibt hier, dass ihre erste Erkenntnis, ihr erstes Verständnis von Liebe nicht durch einen körperlichen Liebesakt, z. B. eine warme Umarmung, eine zärtliche Liebkosung, einen Kuss auf die Wange, ein Klopfen auf den Kopf usw., sondern vielmehr durch ihre Fähigkeit, Liebe als abstrakte Idee zu begreifen, durch die Betonung des Denkprozesses durch ihren Lehrer, zustande kam. Erst als Helen die Liebe als etwas Allumfassendes und doch Unberührbares verstand, hatte sie ein Verständnis für die tiefste Form der Liebe, wie „unsichtbare Linien, die sich zwischen meinem Geist und den Geistern anderer spannen“.
“So ward ich aus Aegyptenland geführt und stand vor dem Sinai; eine göttliche Macht berührte meinen Geist und machte ihn sehen, sodaß ich vieles Wunderbare wahrnehmen konnte. Und von dem heiligen Berge her hörte ich eine Stimme, die sprach: Wissen ist Liebe und Licht und Sehen.”
Lieber Leser, hast du dich je bei einer Seefahrt in dichtem Nebel befunden, der dich wie eine greifbare weiße Finsternis einzuschließen schien, während das große Schiff seinen Kurs längs der Küste mit Hilfe von Senkblei und Lotleine zagend und ängstlich verfolgte, und du mit klopfendem Herzen irgend ein Ereignis erwartetest? Jenem Schiffe glich ich vor Beginn meiner Erziehung, nur fehlten mir Kompaß und Lotleine, und ich hatte keine Ahnung davon, wie nahe der Hafen war. Licht! gebt mir Licht! lautete der wortlose Aufschrei meiner Seele, und das Licht der Liebe erhellte bereits in dieser Stunde meinen Pfad.”
“Je mehr meine Kenntnisse zunahmen, desto stärker wurde mein Entzücken über die Welt, in der ich lebte.”

“Es war also nicht der Tastsinn, der mir Wissen brachte. Es war das Erwachen meiner Seele, das meinen Sinnen ihren Wert gab, ihre Wahrnehmung von Objekten, Namen, Eigenschaften und Beschaffenheit. Durch das Denken wurde ich mir der Liebe, der Freude und all der Emotionen bewusst. Ich wollte unbedingt wissen, dann verstehen und anschließend über das, was ich wusste und verstand, nachdenken, und der blinde Impuls, der mich nach dem Diktat meiner Empfindungen hin und her getrieben hatte, verschwand für immer.”
— Helen Keller, “Die Welt, in der ich lebe“
Ich denke, dies ist ein guter Zeitpunkt, um auf einige der Kritikpunkte einzugehen, die mir gegenüber Helen Keller geäußert wurden, nämlich dass sie eine „privilegierte, weiße Person“ aus einer sehr wohlhabenden Familie sei und daher Zugang zu den besten Ressourcen hatte (obwohl sie fünfeinhalb Jahre in stummer Dunkelheit lebte) und dass ihre „Errungenschaften“ daher überbewertet seien und eher ihr Privileg feiern als das, was sie aus eigener Kraft erreicht hat. Diese Kritik an Keller scheint darauf hinauszulaufen, dass alles, was mit Privilegien erreicht wird, einschließlich Bildung, nicht auf persönlichen Verdienst zurückzuführen ist, und dass diejenigen, die in Armut geboren wurden, wie etwa Taubblinde, zu Unrecht in den Schatten verbannt werden und nicht in der Lage sind, zu glänzen und die wohlverdiente Anerkennung für ihre Kämpfe im Gefolge der titanischen Berühmtheit von Helen Keller zu erhalten Keller, wie Geraldine Lawhorn, eine schwarze taubblinde Frau, die zur gleichen Zeit wie Helen Keller lebte und erst 1983 im Alter von 67 Jahren die Möglichkeit hatte, einen Abschluss zu machen (Helen Keller war die erste taubblinde Person, die 1916 im Alter von 24 Jahren einen Abschluss machte).
Ich halte dies für eine gefährliche Argumentation, die nicht dazu beiträgt, die Ungleichheit und Armut in Teilen der Gesellschaft zu beseitigen, sondern diejenigen verurteilt, die Zugang zu Ressourcen und Lernmitteln haben. Bildung wird als Privileg behandelt, was nicht der Fall sein sollte, auch wenn es so ist, dass nicht jeder den gleichen Zugang zu Bildung hat. Wird diese Ungleichheit jedoch abgebaut, indem man die Bildung angreift?
Vielleicht könnte es sinnvoller sein, die ungleiche Möglichkeit des Zugangs zu einer solchen Bildung anzugehen und auf Korrekturen zu dringen? Eine qualitativ hochwertige Bildung, d. h. eine Bildung, die lehrt, wie man das Denken kultiviert, reflektiert, Hypothesen aufstellt und Probleme löst, ist die wahre Lösung, um die größte Epidemie der Armut zu beenden – die Armut der Unwissenheit. Wer andere auf sein Niveau herunterzieht, steigt selbst nicht aus dem Jammertal!
Es ist absurd zu behaupten, dass Kellers Privileg ein Nachteil für andere war. Ihr Erfolg war vielmehr ein Beweis dafür, dass das Verständnis des Geistes grundsätzlich nicht von unserer Sinneswahrnehmung abhängt, anhand derer die Realität erfasst wird. Vielmehr hat Helen Keller bewiesen, dass der Geist durch abstraktes Denken zu einem Verständnis der Realität gelangt. Es wird nicht oft in diesem Licht diskutiert, aber die bloße Existenz von Keller als Phänomen war eine Absage an die Art und Weise, wie Wissenschaft und empirisches Wissen gelehrt wurden. Keller war ein lebender Gegenbeweis für jene vorherrschenden Theorien darüber, was „Geist“ und „Realität“ ausmacht.
Was diese Kritiker von Keller nicht verstehen, ist, dass ihr Triumph nicht nur ein individueller Triumph ist, sondern ein gemeinsamer Triumph für das, was uns wirklich gut und wirklich menschlich macht, unabhängig davon, aus welchem Teil der Welt man kommt, welche Sprache man spricht und in welche Kultur man eingetaucht ist. Kellers Geschichte ist eine universelle Geschichte, mit der wir uns alle identifizieren und aus der wir lernen können. Sie zeigt, wie wir durch den Bereich des Denkens und, ich behaupte, der Philosophie Zugang zu unserem tiefsten Selbst finden.
Was es heißt, ein Optimist zu sein
Der stille Arbeiter ist die Vorstellungskraft, die die Realität aus dem Chaos heraus formt.
— Helen Keller
“Als sich meine Erfahrungen erweiterten und vertieften, begannen sich die unbestimmten, poetischen Gefühle der Kindheit in konkreten Gedanken zu festigen. Die Natur – die Welt der Berührung – war gefaltet und mit mir selbst gefüllt. Ich neige dazu, jenen Philosophen zu glauben, die erklären, dass wir nichts als unsere eigenen Gefühle und Ideen kennen. Mit ein wenig genialer Argumentation kann man in der materiellen Welt einfach einen Spiegel sehen, ein Bild permanenter geistiger Empfindungen. In beiden Sphären ist Selbsterkenntnis die Bedingung und die Grenze unseres Bewusstseins. Das ist vielleicht der Grund, warum viele Menschen so wenig über das wissen, was außerhalb ihres kurzen Erfahrungshorizonts liegt. Sie schauen in sich hinein – und finden nichts! Deshalb schließen sie, dass es auch nichts außerhalb ihrer selbst gibt.”
— „Die Welt, in der ich lebe“
Helen Keller schreibt in „Die Welt, in der ich lebe“ über Philosophie:
“Ein taubblinder Mensch sollte in Platons idealer Welt eine besondere Bedeutung finden. Diese Dinge, die man sieht, hört und berührt, sind nicht die Realität der Realitäten, sondern unvollkommene Manifestationen der Idee, des Prinzips, des Spirituellen; die Idee ist die Wahrheit, der Rest ist Täuschung.”
„Die Idee ist die Wahrheit, der Rest ist Täuschung.“ Obwohl Keller in eine Welt der stillen Dunkelheit geworfen worden war, gelang es ihr, zu ihrem Verstand und ihrer Seele zurückzufinden, und dieser Weg war völlig frei von jeglicher Erfahrung durch Sinnesgewissheit. Obwohl Keller in so jungen Jahren eine schreckliche Notlage erlebte, hatte sie diese überwunden und war nun den meisten voraus. Denn durch ihre Prüfungen entdeckte sie, wo die Wahrheit liegt, und erkannte die Torheit einer „praktischen Realität“, die zwar von den meisten für konkrete Tatsache gehalten wurde, in Wirklichkeit aber eine Täuschung war, bei der man „den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht“.
Helen fährt in ihrem Aufsatz fort:
“So lerne ich von der Philosophie, dass wir nur Schatten sehen und nur teilweise wissen und dass sich alle Dinge ändern; aber der Geist, der unbesiegbare Geist, umfasst alle Wahrheit, umfasst das Universum, wie es ist, verwandelt die Schatten in Realitäten und lässt turbulente Veränderungen nur als Momente in einer ewigen Stille oder als kurze Linien im unendlichen Thema der Vollkommenheit erscheinen, und das Böse nur als »einen Halt auf dem Weg zum Guten«.”
Hier macht Keller deutlich, dass unser Geist, selbst ein Geist, der in stille Dunkelheit getaucht ist, unbesiegbar ist und das Universum so annimmt, wie es ist, d. h., die Organisation des Verstehens im Geist ist einem universellen Verständnis ähnlich, einem Verständnis, das auf Naturrecht fußt. Unser Geist wurde durch Naturgesetze geformt und somit sind wir ihre Anhänger.
„Der Mensch blickt in sich hinein und findet mit der Zeit das Maß und die Bedeutung des Universums."
Mit diesem Verständnis ist das Böse also nicht etwas, das außerhalb von uns existiert, sondern vielmehr in uns. Es stellt den Kampf zwischen Unwissenheit und Weisheit dar, und dieser Kampf ist immer ein spirituell schmerzhafter, denn wir spüren, dass ein Teil von uns sterben muss, damit der andere Teil wachsen kann. Das Böse zu kennen bedeutet, diesen Kampf zu kennen, und wenn man ihn erfolgreich überwindet, kann man nicht anders, als infolgedessen Optimist zu werden: „Das Böse, von dem der Dichter annahm, dass es eine grausame Enttäuschung wäre, ist notwendig für die volle Erkenntnis der Freude. Nur durch die Begegnung mit dem Bösen war es mir möglich, die Schönheit der Wahrheit, der Liebe und des Guten im Kontrast dazu zu spüren.“
Optimismus, d. h. nicht der Optimismus der Törichten oder der Fantastischen, sondern der weise Optimismus, ist also etwas, das nicht an der Gegenwart teilhat, sondern in gewisser Weise das Verständnis dafür ist, was die Richtung der Zukunft bestimmt, basierend auf der Anerkennung der grundlegenden Gesetze des Universums, die auf dem Guten, dem Wahren und dem sich beständig Vervollkommnenden beruhen.
Die Philosophie weist ständig auf die Unzuverlässigkeit der fünf Sinne und die bedeutsame Arbeit der Vernunft hin, welche die Fehler des Sehens korrigiert und seine Illusionen entzaubert. Wenn wir uns nicht auf die fünf Sinne verlassen können, wie viel weniger können wir uns auf drei verlassen! Welchen Grund haben wir, Licht, Ton und Farbe als integralen Bestandteil unserer Welt zu verwerfen? Wie können wir wissen, dass sie für uns aufgehört haben zu existieren? Wir müssen ihre Realität als gegeben hinnehmen, so wie der Philosoph die Realität der Welt annimmt, ohne sie physisch als Ganzes sehen zu können.
Die antike Philosophie liefert ein Argument, das immer noch gültig zu sein scheint. Es gibt im Blinden wie im Sehenden ein Absolutes, das dem, was wir als wahr erkennen, Wahrheit verleiht, dem, was geordnet ist, Ordnung verleiht, dem Schönen Schönheit verleiht, dem Greifbaren Berührbarkeit verleiht. Wenn dies anerkannt wird, folgt daraus, dass dieses Absolute nicht unvollkommen, unvollständig oder fragmentarisch ist. Es muss notwendigerweise über die begrenzte Evidenz unserer Empfindungen hinausgehen und auch dem Unsichtbaren Licht verleihen, dem Musikalischen Musik, die die Stille trübt. So zwingt uns der Geist selbst anzuerkennen, dass wir uns in einer Welt der intellektuellen Ordnung, Schönheit und Harmonie befinden. Die Essenzen oder Absolutheiten dieser Ideen vertreiben notwendigerweise ihre Gegensätze, die zum Bösen, zur Unordnung und zur Zwietracht gehören. Taubheit und Blindheit existieren also nicht im immateriellen Geist, der philosophisch gesehen die reale Welt ist, sondern sind mit den vergänglichen materiellen Sinnen verbannt. Die Wirklichkeit, für welche die sichtbaren Dinge Symbole sind, leuchtet vor meinem Geist. Während ich mit unsicheren Schritten durch mein Zimmer gehe, schwingt sich mein Geist auf Adlerflügeln himmelwärts und blickt mit unauslöschlicher Vision auf die Welt der ewigen Schönheit. — „Die Welt, in der ich lebe“
Es gibt einen Grund, warum der große Wissenschaftler Gottfried Leibniz sagte: „Wir leben in der besten aller möglichen Welten“, worauf Voltaire in seiner Persiflage „Candide“ nur spottete. Warum aber kam einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten zu dem Schluss, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben?
Leibniz bezog sich auf die Gesetze des Universums, wie das Prinzip des geringsten Aufwands, das bereits zu Fermats Zeiten, als er das Verhalten von Licht im Hinblick auf den kürzesten Weg untersuchte, als „moralisches Attribut“ der physikalischen Prinzipien anerkannt wurde. Das Universum war nicht zufällig, sondern geordnet, und die Ordnung war eine harmonische Ordnung!
Ein Optimist unterscheidet sich also nicht von einem Philosophen, der sich nicht von einem Wissenschaftler unterscheidet, der sich nicht von einem Dichter unterscheidet. All diese Menschen verlassen sich auf die Fähigkeit, die Welt jenseits der bloßen Sinneswahrnehmung zu sehen, und sogar jenseits dessen, was sie in der Gegenwart abbildet, und für das, was sie in der Zukunft sein wird. Mit anderen Worten, ihre Gedanken befinden sich in einer Zukunft, die noch im Werden begriffen ist.
Deshalb liegt die Macht nicht in Reichtum und Einfluss, was das wahre Tal der Tauben und Blinden ist (diejenigen, die noch nicht zu ihrem Geist und ihrer Seele erwacht sind und deshalb die wahrhaft Versklavten sind), sondern die Macht liegt in der Vereinigung mit diesen höheren Prinzipien des Universums, die auf dem Naturgesetz basieren, wie es durch die Werke Platons ausgedrückt wird.
Was aufgebaut wurde, kann auch wieder abgerissen werden, aber die Idee gehört niemals einem Individuum, tatsächlich ist ihr Ursprung nicht einmal in einem Individuum oder einem Kollektiv zu finden. Vielmehr existiert eine Idee als eine von uns unabhängige Wahrheit. Deshalb kann eine Idee, die der Wahrheit entspricht, nicht zerstört werden, weil sie letztlich nicht von unserer flüchtigen und unbeständigen Anerkennung solcher Dinge abhängt. Die Wahrheit entsteht nicht plötzlich, nur weil wir sie behaupten. Daher ist die Wahrheit unzerstörbar und unauslöschbar. Aus diesem Grund wird der Geist auch immer Zugang zu einer Idee haben, die mit der Wahrheit in Verbindung steht, wenn ihm die richtigen Werkzeuge für Vorstellungskraft und Denken zur Verfügung stehen, sodass der Geist immer wieder zu seinem Ursprung zurückfindet: der Wahrheit, die durch die Liebe zur Weisheit erkannt wird.
In diesem Zusammenhang ist es kein großer Verlust, wenn man von den Vielen verspottet wird, weil man an den Prinzipien des Optimismus festhält, denn ein Optimist zu sein bedeutet, Zugang zu Träumen zu haben, und wie Helen Keller in ihrem Aufsatz über „Optimismus“ feststellt: „Ich lebe in einem schönen Traum; aber dieser Traum ist das Tatsächliche, das Gegenwärtige – nicht kalt, sondern warm; nicht kahl, sondern mit tausend Segnungen ausgestattet.“
Doch wenn man die Traumwelt entfernt, ist der Verlust unermesslich! Der magische Zauber, der die Poesie zusammenhält, bricht. Der Glanz der Kunst und die aufsteigende Macht der Fantasie werden gemindert, weil kein Phantom von farbenfrohen Sonnenuntergängen und Blumen auf ein Ziel zusteuert. Vorbei ist die stumme Erlaubnis oder Duldung, welche die Seele ermutigt, die Grenzen von Zeit und Raum zu verspotten, Erfolge für noch ungeborene Zeitalter vorherzusagen und zu sammeln. Löscht man Träume aus, verlieren Blinde einen ihrer wichtigsten Tröster; denn in den Visionen des Schlafes sehen sie ihren Glauben an den sehenden Geist und ihre Erwartung von Licht jenseits der leeren, engen Nacht gerechtfertigt. Nein, unsere Vorstellung von Unsterblichkeit ist erschüttert. Der Glaube, die Triebkraft des menschlichen Lebens, erlischt. Vor einer solchen Leere und Kahlheit war der Schock zerstörter Welten in der Tat willkommen. In Wahrheit bringen uns Träume den Gedanken unabhängig von uns und trotz uns, damit die Seele ihre Natur aufrichten, große Segel an einer sich verlängernden Schnur setzen und jubelnd auf das Unendliche zustürmen kann.” — Helen Keller „Die Welt, in der ich lebe“
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Uwe Alschner