Handeln in Verantwortung vor Gott
Warum Dietrich Bonhoeffers Text "von der Dummheit" im Kontext gelesen und verstanden werden will. Und warum Krieg nicht mit Krieg beendet werden kann.
“Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.”
— Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Präambel*
Lieber Miko,
ich möchte dir berichten, wie in diesen Tagen in Deutschland zunehmend versucht wird, Rufe nach Frieden und Verhandlung als “Dummheit” abzuqualifizieren. Dafür wird auch ein Text von Dietrich Bonhoeffer herangezogen, den er “Von der Dummheit” nannte.
Es geht um diesen Text:
Von der Dummheit
Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch –, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich. Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anläßlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, daß bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern daß unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und daß dieser nun – mehr oder weniger unbewußt – darauf verzichtet, zu den sich er gebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Mißbrauchs. Dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können. Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen. In dieser Sachlage wird es übrigens auch begründet sein, daß wir uns unter solchen Umständen vergeblich darum bemühen, zu wissen, was das Volk eigentlich denkt, und warum diese Frage für den verantwortlich Denkenden und Handelnden zugleich so überflüssig ist – immer nur unter den gegebenen Umständen. Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist. Übrigens haben diese Gedanken über die Dummheit doch dies Tröstliche für sich, daß sie ganz und gar nicht zulassen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen.
Es wird argumentiert, dass der Präsident Russlands, Vladimir Putin, ein böser Mann sei. Viele stellen ihn gar in eine Reihe mit Adolf Hitler, einem Mann, der an der Spitze Deutschlands stand, und im Deutschen Namen unzähliges Leid über ganz Europa und weite Teile der Welt brachte. Auch über Russland, das im Krieg gegen Hitlers Deutschland 29 Millionen Tote zu beklagen hatte.
Ich habe in der Friedensstadt Osnabrück Geschichte studiert, und dort viel über die Sinnlosigkeit des Krieges gelernt. 1648 wurde in Osnabrück und in Münster der Westfälische Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg verkündet. Ich möchte nun versuchen, dir und allen Leserinnen und Lesern zu verstehen helfen, dass die Rufe nach Frieden gerade heute wichtiger sind denn je. Auch und gerade im Hinblick auf Russland.

Tatsächlich ist es wahr, dass aktuell ein schrecklicher Krieg in der Ukraine geführt wird, den Russland vor drei Jahren begonnen hatte. Dieser Krieg ist ungerecht und böse, weil viel unschuldige Menschen sterben.
Gerade deswegen ist es jedoch um so wichtiger, für ein Ende des Krieges einzutreten und nach Frieden zu rufen. Vor allem aber ist es wichtig, sich den Vergleichen mit dem Krieg zu widersetzen, den damals Hitler im Deutschen Namen über die Welt brachte. Beides zu tun, sich für Frieden auszusprechen und den Vergleichen mit Hitler entgegenzutreten, ist alles andere als “Dummheit”. Ich glaube auch, dass es im Sinne Dietrich Bonhoeffers wäre, dies zu tun.
Hier sind meine Gründe:
Zum einen ist es den wenigsten Menschen geläufig, dass Bonhoeffers Text “von der Dummheit” aus einem größeren Zusammenhang stammt, der wichtig ist. Das bleibt zumeist unerwähnt, wenn es heute in Videos und Texten um Bonhoeffer und seine Theorie von der Dummheit geht:
Gott ist aber die Kraft, welche Bonhoeffer gerade im Kontext seiner Gedanken von der Dummheit als wichtigste Größe zur Überwindung von Dummheit allen Menschen in Erinnerung rufen will:
“Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.”
Daher rate ich zu größter Vorsicht bei allen, die sich auf Bonhoeffer berufen, aber den Glauben an Gott überhaupt nicht erwähnen. Sie haben Bonhoeffer nicht verstanden, oder sie wollen gar seine Aufforderung, sich mit Gott zu beschäftigen, vergessen machen. Anders ist eine so krasse Verkürzung von Bonhoeffer gar nicht zu erklären.
Aber Bonhoeffers Worte von der Dummheit sind auch ansonsten durchaus nicht so einfach.
Die Passage ist dem längeren Text “Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943” entnommen, den Dietrich Bonhoeffer, kurz vor seiner Verhaftung (im April 1943) zum Jahreswechsel für einige enge Vertraute verfasst hatte und die er mit folgenden Worten überschrieb:
“In den folgenden Seiten möchte ich versuchen, mir Rechenschaft zu geben über einiges von dem, was sich uns in diesen Zeiten als gemeinsame Erfahrung und Erkenntnis aufgedrängt hat, nicht persönliche Erlebnisse, nichts systematisch Geordnetes, nicht Auseinandersetzungen und Theorien, sondern gewissermaßen gemeinsam im Kreise Gleichgesinnter gewonnene Ergebnisse auf dem Gebiet des Menschlichen, nebeneinandergereiht, nur durch die konkrete Erfahrung zueinander gehörig, nichts Neues, sondern gewiß in vergangenen Zeiten längst Gewußtes, aber uns neu zu erleben und zu erkennen Gegebenes. (…)”
Bonhoeffer betont, dass seine Gedanken “nichts Neues, sondern gewiß in vergangenen Zeiten längst Gewußtes” beinhalten. Er ist vor allem ein Mann des Glaubens. Als solcher ist er sich sehr bewusst, dass nur Gott vollkommen ist. Der Mensch hat und macht Fehler. Ähnlich wie auch Friedrich Schiller ist sich Bonhoeffer jedoch sicher, dass Wissen um die eigene Fehlbarkeit nicht dazu führen darf, aus Angst vor Fehlern gar nicht zu handeln. Auch die bloße Tugend einer “Pflichterfüllung” (wie bei Kant, dem preußischen Hof-Philosophen) ist ihm kein hinreichender Grund für verantwortliches Handeln:
“Der Mann der Pflicht wird schließlich auch noch dem Teufel gegenüber seine Pflicht erfüllen müssen. Wer es aber unternimmt, in eigenster Freiheit in der Welt seinen Mann zu stehen, wer die notwendige Tat höher schätzt als die Unbeflecktheit des eigenen Gewissens und Rufes, wer dem fruchtbaren Kompromiß ein unfruchtbares Prinzip oder auch dem fruchtbaren Radikalismus eine unfruchtbare Weisheit des Mittelmaßes zu opfern bereit ist, der hüte sich davor, daß ihn nicht seine Freiheit zu Fall bringe. Er wird in das Schlimme willigen, um das Schlimmere zu verhüten, und er wird dabei nicht mehr zu erkennen vermögen, daß gerade das Schlimmere, das er vermeiden will, das Bessere sein könnte. Hier liegt der Urstoff von Tragödien. Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser oder jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Aber er muß seine Augen und seinen Mund verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetruges kann er sich von der Befleckung durch verantwortliches Handeln reinerhalten. Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterläßt, nicht zur Ruhe kommen lassen. Er wird entweder an dieser Unruhe zugrunde gehen oder zum heuchlerischsten aller Pharisäer werden. Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?”
Bonhoeffer ruft also nach Verantwortlichkeit. Handeln in Verantwortung vor Gott ist sein Thema.
“Civilcourage — Es mußte sich herausstellen, daß eine entscheidende Grunderkenntnis dem Deutschen noch fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit, andererseits selbst-quälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte. Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen. Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.”
Es geht Bonhoeffer also vor allem um freies, verantwortliches Handeln (im Gegensatz zur Untätigkeit). Mit dem aufrichten Bemühen, gemäß Gottes Willen zu handeln, so Bonhoeffer, wird auch eine in diesem Kontext vielleicht unausweichliche Sünde vergeben.
Die Situation, in der Bonhoeffer seine Gedanken formuliert, ist dramatisch. “Ob es jemals in der Geschichte Menschen gegeben hat, die in der Gegenwart so wenig Boden unter den Füßen hatte”, schreibt er. Allein dies ist ein Hinweis auf die notwendige Zurückhaltung, mit der seine damals verfassten Zeilen behandelt werden sollten. Sie leichtfertig eins-zu-eins auf heutige Zeiten zu übertragen, gar ihn als Kronzeugen gegen Russland zu verwenden, erscheint mir sehr fragwürdig.
Ja, es stimmt. Der Krieg in der Ukraine ist böse. Allerdings greift es zu kurz, wenn man diese Situation leichtfertig im Sinne des Tenors in Medien und Politik hierzulande so deutet, dass “Russland böse”, dass “Putin ein zweiter Hitler” sei und die Ukraine sowie die Unterstützer der dortigen Regierung “die Freiheit verteidigen”. Bonhoeffer warnt: “Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.” Ist es wirklich so einfach, “gut und böse” im Ukraine-Konflikt zu identifizieren?
Selbst Bonhoeffer ist in anderen Texten sehr vorsichtig, aus der Tatsache, dass Kriegshandlungen böse sind, den Schluss abzuleiten, dass Frieden um jeden Preis geschaffen werden muss:
“Dort, wo eine Gemeinschaft des Friedens Wahrheit und Recht gefährdet oder erstickt, muß die Friedensgemeinschaft zerbrochen und der Kampf angesagt werden.”
— Dietrich Bonhoeffer, DBW 11, S. 339
Hieraus lässt sich natürlich zunächst die Legitimation für eine Verteidigung gegen Aggression ableiten. Auch für eine Verteidigung gegen eine etwa von Russland ausgegangene Aggression.
Zwei Aspekte kommen hier jedoch völlig zu kurz, bei allen, die sich heute im Bemühen, weitere Aufrüstung gegen Russland auf die Texte Bonhoeffers “von der Dummheit” und dem “Brechen der Friedensgemeinschaft” in Rechtfertigung des Kampfes berufen wollen: Auch für Russland würde eine solche Rechtfertigung gelten!
Die Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts ist also von großer Bedeutung für die Frage nach einer etwaigen Rechtfertigung von Aufrüstung und Kriegstüchtgkeit gegen Russland. Diese Vorgeschichte kommt allerdings regelmäßig zu kurz!
Bereits 2008 hat Russland die NATO darauf hingewiesen, dass eine Aufnahme der Ukraine in das “Verteidigungsbündnis” nicht hingenommen werden könne, weil dies die Sicherheitsinteressen Russlands beeinträcht. “Njet bedeutet Njet!”. Dennoch hat die NATO der Ukraine (und Georgien) eine Beitrittsperspektive gegeben. Mehr noch: führende Vertreter von NATO-Mitgliedsländern haben sich eskalierend in die Angelegenheiten der Ukraine eingemischt und sich dabei 2014 sogar gegen Europäische Kritik durchgesetzt.
Seit 2014 spätestens wurde die Stationierung von Waffen in der Ukraine diskutiert, die eine militärische Bedrohung Russlands darstellten. Hierüber wurde in unseren Medien so gut wie gar nicht berichtet. Russland hat Sicherheitsinteressen, so wie Amerika sie hat oder andere Länder.
Dies macht den Angriff Russlands nicht besser. Allerdings haben zahlreiche westliche Quellen die aggressive Haltung der NATO und ihrer Mitgliedsländer gegen Russland seit Jahren dokumentiert, so dass es offenkundig ist, dass eine Schwarz-Weiß-Brille, die den Russen den schwarzen Peter zuschiebt und den Westen als Wahrer des Friedens darstellt, wohl aus Russischer Sicht der von Bonhoeffer beschriebenen abgrundtiefen Bosheit des Bösen sehr nahe kommt.