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Innerer Optimismus
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Innerer Optimismus

Von Helen Keller
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Cross-Post von Morgenstunden
Kurz vor Weihnachten 2024 habe ich einen Aufsatz über Helen Kellers "Optimismus" übersetzt. Nun habe ich Helen Kellers Text selbst eingesprochen. -

[Der folgende Text stammt aus einem 1906 veröffentlichen kleinen Buch von Helen Keller. Nachdem ich kurz vor Weihnachten durch den Beitrag von Cynthia Chung auf Helen Keller aufmerksam wurde, habe ich mich näher mit Helen Keller beschäftigt. Im Antiquariat erwarb ich ihre vor mehr als einhundert Jahren veröffentlichte Schrift über den Optimismus, die Helen Keller als “Glaubensbekenntnis” veröffentlicht hat.

Ich habe diese Schrift gelesen und bin davon sehr beeindruckt. Keller begründet darin in drei Kapiteln ihr Bekenntnis zum Optimismus. Dabei finde ich vor allem ihren gedanklichen Aufbau und die grundsätzliche Herleitung einzigartig und zeitlos aktuell. Die von Keller gelieferten Belege sind aus der damaligen Zeit zu verstehen.

Hervorhebungen im Text in Fett von mir.]

Optimismus. Ein Glaubensbekenntnis

Von Helen Keller

Autorisiert. Deutsch von Dr. Rudolf Lautenbach

Meiner Lehrerin Anne Mansfield Sullivan zugeeignet

1. Innerer Optimismus

Wenn wir die Verhältnisse, in denen wir leben möchten, nach freiem Ermessen auswählen könnten, und wenn der Wunsch bei menschlichen Unternehmungen zugleich seine Erfüllung einschlösse, so würden, glaube ich, alle Menschen Optimisten sein.

Sicherlich betrachten die meisten von uns die Glückseligkeit als das eigentliche Ziel allen irdischen Tuns. Der Wunsch, glücklich zu sein, erfüllt und belebt in gleicher Weise den Philosophen, den König und den Bettler. Ob jemand geistig stumpf, mittelmäßig oder hochbegabt ist, er fühlt, dass der Anspruch auf Glückseligkeit sein unbestreitbares Recht ist.

Es ist merkwürdig zu beobachten, wie verschieden die Vorstellungen sind, welche die Menschen vom Glück haben und an welch merkwürdigen Orten sie diesen Jungbrunnen ihres Lebens suchen. Viele sehen es in der Anhäufung von Reichtümern, manche in dem stolzen Gefühl der Macht und andere in Leistungen auf dem Gebiete der Kunst und der Literatur. Einige wenige erblicken es in der Erforschung ihrer eigenen Psyche oder in dem Streben nach Kenntnissen und Erkenntnis.

Die meisten Menschen bemessen ihr Glück nach physischem Wohlbehagen und materiellem Besitz. Wenn sie irgendein sichtbares Ziel, das sie sich gesteckt haben, erreichten, wie glücklich würden sie sein! Verfehlen sie jedoch dieses Ziel oder diesen zustand so pflegen sie unglücklich zu sein.

Wäre das Glück so zu bemessen, dann hätte ich, die weder sehen noch hören kann, allen Grund, händeringend abseits zu sitzen und zu weinen. Wenn ich nun trotz meiner Gebrechen glücklich bin, wenn trotzdem mein Glücksgefühl so tief verwurzelt und stark ist, dass es ein wahres Glaubensbekenntnis ist, so fest begründet, dass es zu einer Lebensphilosophie wird, — kurz, wenn ich eine Optimistin bin, so ist mein Zeugnis für den Glauben an den Optimismus wohl wert, gehört zu werden. Als ob Sünder in einer Versammlung aufstehen und die Güte Gottes rühmen, so mag eine, die als stiefmütterlich ausgestattet gilt, sich in froher Überzeugung erheben und die Schönheit und Güte des Daseins bezeugen.

Einst kannte ich den Abgrund, in dem es keine Hoffnung gab und in dem alles mit Finsternis umhüllt war. Dann kam die Liebe und machte meine Seele frei. Einst kannte ich nur Nacht und Todesstille. Jetzt kenne ich Hoffnung und Freude. Einst verzehrte ich mich, indem ich gegen die Mauern tobte, die mich einschlossen. Jetzt freue ich mich in dem Bewusstsein, dass ich denken, handeln und den Himmel gewinnen kann.

Mein Leben war ohne Vergangenheit und Zukunft, ein Tod, “eine sehnlichst zu wünschende Auflösung”, wie es der Pessimist bezeichnen würde. Aber ein Wörtchen von den Fingern einer anderen traf auf meine Hand, füllte die seitherige Leere aus und mein Herz schlug höher vor Lust zu leben. Die Nacht floh vor dem Tag, und Liebe und Freude und Hoffnung kamen zum Ausdruck in Gestalt eines heftigen Verlangens nach Kenntnissen. Kann jemand, der einer solchen Gefangenschaft entronnen ist, den das Wonnegefühl der Freiheit durchschauert hat, ein Pessimist sein?

Meine erste Erfahrung war also ein Sprung vom Bösen zum Guten. Und selbst wenn ich mir noch so große Mühe gäbe, würde ich diesen Sprung aus der Finsternis nicht näher erklären können. Das Vorwärtsdrängen ist eine Bewegung, die ganz plötzlich ansetzt, in jenem ersten Augenblick der Befreiung und des Sprunges ins Licht.

Mit dem ersten Wort, das ich mit Verständnis anwendete, lernte ich leben, denken, hoffen. Die Dunkelheit kann mich nicht wiederumfangen. Ich habe die Küste erblickt und kann nun in der Hoffnung leben, das Land zu erreichen. Daher ist mein Optimismus keine sentimentale und unbegründete Zufriedenheit. Ein Dichter sagte einst, »Ich müsste glücklich sein, weil ich die nackte, kalte Wirklichkeit nicht sähe, sondern in einem schönen Traum lebte.« Ich lebe allerdings in einem schönen Traume! Aber dieser Traum ist eben die Wirklichkeit, die Gegenwart. Doch nicht kalt, sondern warm. Nicht nackt, sondern mit tausend Segen ausgestattet. Gerade das Böse, von dem der Poet meinte, dass es eine grausame Täuschung sein würde, ist notwendig zum vollsten Verständnis der Freude.

Nur durch die Berührung mit dem Übel konnte ich durch den Gegensatz die Herrlichkeit der Wahrheit und Liebe und Güte empfangen lernen. Es ist ein Fehler, stets das Gute zu betrachten und das Böse zu ignorieren, weil man durch diese Vernachlässigung die Menschen ins Verderben führt. Es gibt einen gefährlichen Optimismus der Ignorierung und der Indifferenz. Es genügt nicht zu erklären, “das 20. Jahrhundert ist das beste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit”, und sich vom irdischen Bösen in himmlische Träumereien vom Guten zu flüchten. Wie viele gute erfolgreiche und zufriedene Menschen haben Umschau gehalten und nichts gesehen als Gutes, während Millionen ihrer Mitmenschen verschachert und verkauft wurden wie Vieh!

Zweifelsohne gab es viele Optimisten, die sich's wohl ergehen ließen und Wilberforce für einen unbequemen Nörgler hielten, als er sich mit aller Macht und Energie für die Befreiung der Sklaven ins Zeug legte. Solange es noch Ungerechtigkeiten gibt, die Laut nach Abhilfe schreien, hege ich Mißtrauen gegen den voreiligen Optimismus in diesem Lande (in Amerika), welcher ruft: “Hurra! Bei uns ist alles in schönster Ordnung! Wir sind die erste Nation der Welt!

Das ist ein verkehrter Optimismus. Ein Optimismus, der die Schattenseiten nicht berücksichtigt, ist wie ein Haus auf Sand gebaut. Ein Mensch muss das Übel verstehen und die Traurigkeit kennen, ehe er sich als Optimisten bezeichnen und erwarten darf, dass andere diese seine innere Überzeugung als begründet anerkennen.

Ich weiß was Übel ist. Ein oder zwei Mal habe ich mit ihm gekämpft und eine zeitlang seine erstarrende Wirkung auf mein Leben verspürt. Daher spreche ich aus Erfahrung, wenn ich behaupte, daß das Übel keine schlimmen Folgen hat, sondern nur eine art geistiger Gymnastik ist.

Gerade darum, weil ich damit in Berührung gekommen bin, bin ich eine umso wahrhaftigere und überzeugtere Optimistin. Ich kann aus voller Überzeugung sagen, dass der Kampf, den das Böse notwendig macht, ein wunderbarer Segen ist! Er macht uns zu starken, geduldigen und hilfreichen Charakteren. Er führt uns in das innerste Wesen der Dinge und lehrt uns, dass, wiewohl die Welt voller Leid ist, sie auch voll ist von Mitteln, es zu überwinden!

Mein Optimismus beruht also nicht auf der Negation des Bösen, sondern auf einem frohen Glauben, dass das Gute überwiegt, und auf dem mächtigen Willen, immer mit dem Guten Hand in Hand zu arbeiten, damit es mehr und mehr vorherrschen möge.

Ich suche die Kräfte zu stärken, die mir Gott verliehen hat, in allem und jedem das Beste zu sehen und dieses Beste zu einem Teil meines Lebens zu machen. Die Welt ist mit dem Guten besät, aber wenn ich meine heiteren Anschauungen nicht in das praktische Leben übertrage und meinen eigenen Acker damit bestelle, kann ich kein Körnchen vom Guten ernten.

Auf diese Weise ist mein Optimismus auf zwei Welten gegründet, auf meine eigene und auf die, welche mich umgibt. Ich fordere von der Welt, dass sie gut sein möge und siehe da, sie gehorcht und ist es. Ich erkläre die Welt für gut und die Tatsachen ordnen sich so ein, dass sie meine Behauptung als überwältigend wahr erweisen.

Dem Guten öffne ich die Pforten meines Herzens und wachsam verschließe ich sie dem Schlechten! Darauf beruht die Kraft dieser meiner schönen und grundsätzlichen Überzeugung. Sie bildet selbst einen Schutzwall gegen widerstrebende Einflüsse. Ich werde nie entmutigt durch die Abwesenheit des Guten. Ich kann durch keinerlei gegenteilige Ansichten von meiner Überzeugung abgebracht und hoffnungslos gemacht werden. Zweifel und Misstrauen sind nur der Schrecken einer furchtsamen Einbildungskraft, die ein standhaftes Herz besiegen und über die ein großer Geist hinwegschreiten wird.

Am Ende meiner Studienzeit schaue ich vorwärts, die Brust mit stolzen Hoffnungen geschwellt, was für eine Tätigkeit die Zukunft mir vorbehalten haben mag. Mein Anteil am Getriebe der Welt mag beschränkt sein, aber die Tatsache, dass es Arbeit ist, macht ihn kostbar. Ja, der Wunsch und der Wille zu arbeiten ist an sich schon Optimismus.

Vor zwei Generationen schleuderte Carlyle sein Evangelium der Arbeit in die Welt, den Träumern von der Revolution, die Luftschlösser von einer Glückseligkeit bauten und, wenn dieselben von dem unvermeidlichen Stürmen hinweggeweht wurden, Pessimisten wurden, jenen unfruchtbaren Gestalten eines Endymion, Alastor, Werther rief dieser schottische Bauer, auch ein Mann der Träume, aber in der harten praktischen Welt, laut seinen Glauben an die Arbeit zu. “Seid nicht länger ein Chaos, sondern eine Welt. Schaffet. Schaffet! Und es wäre auch nur das kümmerlichste, kleinste Bruchteilchen eines Produktes. Schafft es, in Gottes Namen! Es ist das Äußerste, was du in dir hast. Also raus damit. Auf, auf. Was du auch tust, tu es mit all deiner Kraft. Wirke, solange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, wo niemand wirken kann.

Man hat von verschiedenen Seiten behauptet, Carlyle hätte die Menschen von der rauen Wirklichkeit ablenken und sie durch schwere Arbeit und Anstrengung den Blick zur Erde gesenkt ihr Elend vergessen machen wollen. Das ist Carlyles Absicht nicht. »Tor!«, ruft er, »das Ideal liegt in dir selbst. Das Hindernis liegt gleichfalls in dir selbst. Schaffe das Ideal heraus in die armselige, erbärmliche Wirklichkeit! Lebe, denke, glaube und sei frei!« Es ist klar, was er meint, dass arbeiten, produzieren das Leben aus dem Chaos herausbringt, das Individuum zu einer Welt, einer Ordnung macht. Und Ordnung ist Optimismus.

Auch ich kann wirken, und weil ich gerne mit Kopf und Hand arbeite, bin ich Optimistin. Ich glaubte immer, ich würde behindert werden in dem Wunsche, etwas Nützliches zu leisten. Aber ich habe gefunden, dass obgleich der Wege, in denen ich mich nützlich machen kann, nur wenige sind, doch die Arbeit, die sich mir eröffnet, endlos ist. Der freudigste Arbeiter im Weinberge mag ein Krüppel sein. Wenn ihn auch die anderen übertreffen, so reifen, doch auch alljährlich in der Sonne für ihn volle Trauben. Darwin konnte auf einmal nur eine halbe Stunde arbeiten; und doch hat er in vielen fleißigen halben Stunden den Grund zu einer neuen Philosophie gelegt. Ich möchte gerne eine große und edle Aufgabe erfüllen, aber meine vornehmste Pflicht und Freude ist es, auch niedrige Aufgaben so zu behandeln, als ob sie groß und edel wären. Ich pflege stets zu bedenken, wie ich den Anforderungen, die jeder Tag an mich stellt, am besten gerecht werden kann und ich freue mich darüber, dass andere das leisten können, was mir versagt ist.

Der Historiker Green sagt, dass die Welt vorwärtsgebracht wird, nicht allein durch die gewaltigen Taten ihrer Helden, sondern ebenso durch die vereinten geringen Antriebe jedes ehrlichen Arbeiters; und dieser Gedanke allein genügt mir, um mich in dieser dunklen Welt und Weite zu leiten. Ich freue mich über das Gute, das andere tun. Denn ihre Tätigkeit gibt mir die Gewähr, dass mit oder ohne mein Mitwirken, das Wahre und das Gute gesichert stehen.

Ich habe Vertrauen und nichts, was auch immer eintreten mag, stört mein Vertrauen. Ich erkenne die Güte der Macht, die wir alle als die Höchste verehren, — Ordnung, Schicksal, Weltgeist, Natur, Gott. Ich erkenne diese Macht in der Sonne, die alles wachsen lässt und das Leben erhält. Ich befreunde mich mit dieser unerklärlichen Kraft und bin vollkommen bereit, froh und tapfer, jedes Los zu ertragen, das mir der Himmel auferlegen mag.

Das ist meine Anschauung vom Optimismus.

Fortsetzung folgt: 2. Äußerer Optimismus

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