"Es war aber und ist recht, dass der Beste nichts anderes, als das Schönste vollbringe"
Über die Bedeutung der konstruktiven Geometrie und den Goldenen Schnitt
Lieber Miko,
Die vergangenen zwei Morgenstunden [1, 2] drehten sich um das Lernen und das Erlangen von Wissen. Die konstruktive Geometrie und insbesondere auch Pythagoras und die vom ihm gegründete Schule sind für die Theorie des Erlernens (Epistemologie, von altgriechisch ἐπιστήμη epistḗmē, Wissen) von zentraler Bedeutung.

Pythagoras hat erkannt, dass die konstruktive Geometrie als “Sprache” zum Ausdruck von Verhältnissen im Kosmos dient. Sie ist in der Lage, Ideen zu illustrieren, also bildlich zu erfassen.
Insofern ist die pythagoreeische Schule auch eben gerade keine “Zahlenmystik”, wie oft fälschlich behauptet wird. Eine solche Verleumdung verfolgt wahrscheinlich den Zweck, den grundvernünftigen Ansatz hinter den Pythagoreern zu verschleiern. Vergessen wir nicht, dass die Pythagoreer die menschliche Fähigkeit entdeckt und propagiert haben, wonach der Mensch in Konzepten der Ideen zu denken und damit die physische Schöpfung zu gestalten. Gestalt ist ein passender Begriff, weil auch die Geometrie durch Gestalt zu uns spricht. Die sich ergebenden Verhältnisse zwischen “Körpern” (Physik) lassen sich zwar in Zahlen ausdrücken, aber die eigentliche Bedeutung liegt gerade nicht in den Zahlen, sondern in den Verhältnissen, die durch sie ausgedrückt werden!
Geometrie ist demnach eine konstruktive Sprache, mithilfe derer man den Raum beschreiben und verstehen kann.
Der Satz des Pythagoras ist daher auch viel mehr als nur eine Formel zu Berechnung des Flächeninhalts. Es geht um die physisch-geometrische Gestalt des von Gott erschaffenen Raumes und die Verhältnismäßigkeit des Kosmos, die damit ausgedrückt wird.
Im Beispiel des Menon-Dialogs ist es auch diese bewusste Anwendung der “Sprache” Geometrie, um physische Dimensionen zu verstehen, und die Unterschiede, die sich aus einer eindimensionalen Handhabung (Verdoppelung der Länge einer Linie) im Gegensatz zu einer mehrdimensionalen Handhabung (Verdoppelung der Fläche durch Quadratur) ergeben. Diese dimensionalen Unterschiede sind grundlegend für alle weiteren komplexeren Überlegungen, weshalb es von großer Bedeutung ist, dass Schüler das Prinzip nicht nur als Formel lernen, sondern physisch selbst nachvollziehen, um ihr gedanklich-vernünftiges Potenzial zu stimulieren und in der Folge ausschöpfen zu können.
Kepler (wie auch Nikolaus von Kues) haben diesen pythagoreeisch-platonischen Ansatz nicht nur nachvollzogen, sondern entscheidend weiterentwickelt. Und Leibniz baut auf diesen “Ideen” auf und schafft ganz neue Dimensionen kreativer Vernunft. Nicht zuletzt sind die heute völlig selbstverständlichen Computer, ohne diese Entdeckungen von Kepler und Leibniz nicht denkbar.
Gerade Kepler und Leibniz haben diese Entdeckungen vor ihnen ganz bewusst als Reihe oder Kette wahrgenommen, die nur als ganzes betrachtet und verstanden werden kann. Und die sie um ein weiteres Glied erweitert haben, wie sie auch sicher waren, dass es nach ihnen weitere solcher Glieder/Entdeckungen geben müsse. Der Grund dafür war für Kepler und Leibniz (wie auch für alle anderen Humanisten der Renaissance) das göttliche Prinzip der Schöpfung, welches nach einem vernünftigen Grund harmonisch (d.h. verhältnismäßig) geordnet sein muss. Sie beziehen sich bei dieser Annahme auf die Philosophie des Platon aus seinem Timaios-Dialog.
“Es war aber und ist recht, dass der Beste nichts anderes, als das Schönste vollbringe, und da fand er nun, indem er es bei sich erwog, dass unter den ihrer Natur nach sichtbaren Dingen kein Vernunftloses jemals schöner sein werde als ein Vernunftbegabtes, wenn man beide als Ganze einander gegenüberstellt, dass aber wiederum Vernunft ohne Seele unmöglich irgend einem Gegenstande zuteilwerden könne. In dieser Erwägung fügte er die Vernunft in eine Seele und die Seele in einen Körper ein, und fügte so aus ihnen den Bau des Weltalls zusammen, um so naturgemäß das möglichst schönste und beste Werk vollendet zu sehen. Und so darf man denn als wahr scheinend aussprechen, dass diese Welt als ein beseeltes und vernünftiges Wesen durch des Gottes Absicht entstanden ist.”
— Platon, Timaios-Dialog, 30 St.
Auch Leonardo da Vinci war ein solcher Humanist, der das Prinzip allen Lebens mit den Proportionen des Goldenen Schnitts in bildlicher Darstellung verewigt hat. Johannes Kepler und vor ihm Luca Pacioli bezeichneten das Prinzip als Göttliche Proportion, was auf die Verhältnisse räumlicher Gestalt in den fünf Platonischen Körpern bezogen wurde.
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