Morgenstunden
Morgenstunden-Podcast
Praktischer Optimismus
0:00
-25:00

Praktischer Optimismus

"Ideen sind mächtiger als Feuer und Schwert" - Helen Kellers Essay über den Glauben an die Kraft des Optimismus, der sei "wie Wasser für fieberdurstige Lippen" - Teil 3

Optimismus, ein Glaubensbekenntnis

Von Helen Keller

Autorisiert. Deutsch von Dr. Rudolf Lautenbach

Meiner Lehrerin Anne Mansfield Sullivan zugeeignet

3. Praktischer Optimismus

[Teil 2 Äußerer Optimismus]

Der Prüfstein einer jeden Weltanschauung ist ihre praktische Wirkung im Leben. Wenn es wahr ist, dass der Optimismus die Welt vorwärts bringt und der Pessimismus sie aufhält, dann ist es gefährlich, eine pessimistische Philosophie zu verbreiten. Jemand, der glaubt, dass in der Welt der Schmerz die Freude überwiegt und dieser unglücklichen Überzeugung Ausdruck verleiht, vermehrt nur den Schmerz.

Schopenhauer ist ein Feind des Menschengeschlechts. Selbst wenn er ernstlich geglaubt hat, dass diese die schlechteste der möglichen Welten ist, hätte er nicht eine Lehre veröffentlichen sollen, welche die Menschen des Ansporns beraubt, gegen die bestehenden Verhältnisse anzukämpfen. Wenn ihm das Leben Steine gab statt Brot, so war es seine Schuld.

Das Leben ist ein gutes Feld und das Recht wird darauf gedeihen, wenn wir nur die richtigen Mittel anwenden und unseren Mann stehen. Lässt man einmal den Pessimismus, das Gemüt erfassen, so ist das ganze Leben auf den Kopf gestellt, nur noch eitel und beschwerlich. Es gibt keine Heilung der individuellen und sozialen Zerrüttung, außer im Vergessen und Verneinen.

Der Pessimist sagt: “Lasst uns essen, trinken, fröhlich sein, denn morgen sind wir tot.” Wenn ich mein Dasein vom pessimistischen Standpunkt aus betrachte, würde ich verloren sein. Ich würde vergeblich nach dem Licht schauen, das mein Auge nicht erreicht, und nach der Musik lauschen, die nicht in mein Ohr klingt. Ich würde Tag und Nacht flehen und nie zufrieden sein. Ich würde abseits sitzen, in schrecklicher Einsamkeit, von Furcht und Verzweiflung ergriffen.

Da ich es aber für eine Pflicht gegen mich selbst und gegen andere halte, glücklich zu sein, entziehe ich mich einem Elend, das schlimmer sein würde als jeder körperliche Fehler. Wer darf seine eigene Unfähigkeit auf Hoffnung und Güte einen Schatten werfen lassen? Auf den Lebensmut derjenigen, die ihre Bürde tragen, als ob sie ein Vorrecht wäre. Der Optimist kann nicht zurückfallen, kann nicht straucheln, denn er weiß, dass er seinen Nächsten behindert, wenn er vom Wege abweicht. Er wird demzufolge seinen Platz furchtlos behaupten und sich jeder Pflicht des Schweigens erinnern. Jedes Herz hat genug eigenes Leid. Er wird die eisernen Zangen der Verhältnisse erfassen und sie als Werkzeuge benutzen, die Hindernisse zu zerbrechen, die sich ihm in den Weg stellen. Er wird wirken, als ob von ihm allein die Errichtung des Himmels auf Erden abhänge. Wir haben gesehen, dass die größten Philosophen, die Sprecher der Welt, Optimisten waren.

So sind es auch die Männer der Taten und Werke, die Vollbringer der Welt. Dr. Howe fand den Eingang in die Seele Laura Bridgmans, weil er von Anfang an den Glauben hatte, ihn erreichen zu können. Englische Rechtslehrer hatten gesagt, dass die Taubblinden in den Augen des Gesetzes Idioten seien.

Bedenkt nun wie der optimist verfährt: Er bestreitet einen harten juristischen Grundsatz. Er schaut durch den dumpfen unempfindlichen Überzug und erblickt dahinter eine menschliche Seele in Knechtschaft; und ruhig entschlossen geht er an ihre Befreiung. Seine Bemühungen sind erfolgreich. Er schafft Licht aus der Finsternis und beweist dem Gesetz, daß der taubblinde ein verantwortliches Wesen ist.

Als Howe sich erbot, die Blinden lesen zu lehren, gab es Pessimisten, die über seine “Torheit” lachten. Hätte er nicht den Glauben besessen, daß der Geist des Menschen mächtiger ist als die Unwissenheit, die ihn in fesseln hält, wäre er nicht ein optimist gewesen, so würde er die Finger der Blinden nicht in neue Werkzeuge umgewandelt haben.

Kein Pessimist hat je die Geheimnisse der Sterne aufgedeckt oder ein unbekanntes Land gefunden oder der menschlichen Erkenntnis einen neuen Himmel geöffnet. Sankt Bernhard war ein so großer Optimist, dass er glaubte, 250 erleuchtete Männer könnten die Finsternis erhellen, welche zur Zeit der Kreuzzüge alles bedeckte, und das Licht seines Glaubens brach wie ein neuer Tag über Westeuropa an.

[Don] John Bosco, der Wohltäter der Armen und der Angefeindete von den italienischen Städten war gleichfalls ein Optimist ein Prophet, der einen göttlichen Hauch verspürte, als er noch fern war und ihn seinen landsleuten verkündigte. Wenn sie ihn auch darauf verlachten und ihn für wahnsinnig erklärten, wirkte er doch geduldig weiter und mit seiner Hände Arbeit unterhielt er ein Heim für kleine Findlinge. In seiner fieberhaften Begeisterung sagte er die wunderbare Bewegung voraus, die aus seiner arbeit entstehen sollte. Selbst in den Tagen, wo er noch kein Geld und keine Unterstützung hatte, entwarf er flammende Bilder von dem glänzenden System von Schulen und Hospitälern, die sich von einem Ende Italiens bis ans andere ausbreiten sollten, und er erlebte noch die Organisation der San Salvador Gesellschaft, welche die Verkörperung seines prophetischen Optimismus war.

Als Dr. Séguin sich dahin erklärte, dass die Schwachsinnigen unterrichtet werden könnten, lachten die Menschen wieder und behaupteten in ihrer selbstgefälligen Klugheit, er sei selbst nicht besser als ein Geistesschwacher. Aber der edle Optimist harrte aus, und nach und nach sahen die widerstrebenden Pessimisten ein, dass aus dem, den sie belächelt hatten, einer der größten Philanthropen der Welt geworden war.

So glaubt, versucht und vollbringt der Optimist, steht stets in hellem Schein der Sonne. Eines Tages tritt das Wunderbare, das Unaussprechliche ein und leuchtet auf ihn und er ist da es willkommen zu heißen! Seine Seele trifft ihresgleichen und begrüßt freudig jede neue Entdeckung, jeden neuen Sieg über Schwierigkeiten. Jede Vermehrung menschlicher Kenntnisse und menschlichen Glücks.

Illustration aus “Optimismus. Ein Glaubensbekenntnis” von Helen Keller, 12. Auflage, Verlag Robert Lutz, Stuttgart

Wir haben gefunden, dass unsere großen Philosophen und unsere großen Männer der Tat Optimisten sind. Ebenso sind auch unsere hervorragendsten Schriftsteller in ihren Werken und in ihrem Leben Optimisten gewesen. Kein Pessimist erlangte jemals einen seinem Genius angemessenen Leserkreis, wohingegen optimistische Literaten weit mehr als es ihrem Talent entsprach gelesen und bewundert worden sind, aus dem einfachen Grunde, weil sie die Lichtseiten des Lebens schilderten. Dickens, Lamb Goldsmith, Irving, alle die beliebten und feinen Humoristen waren Optimisten, und der Pessimist Swift hat nie so viele Leser gehabt wie seinem hochstehenden Geist entsprechend gewesen wären. Und wahrhaftig, wenn er jetzt herniederstieg und mit dem großmütigen Optimisten Thackeray zusammenträfe, so würde ihm dieser kaum Gerechtigkeit widerfahren lassen. Trotzdem der “Rubáyiát” von Omar Kayyám neuerdings eine größere Verbreitung gefunden hat, können wir es als Regel aufstellen, dass wer gehört werden will, den Glauben an eine bessere Welt im Grunde eine optimistische Anschauung vertreten muss. Er darf mal jammern und schelten, wie dies Carlyle und Ruskin zuweilen tun, aber den Grundton seines Werkes muss der Glaube an das gute Geschick des Lebens und der Welt bilden.

Shakespeare ist der vornehmste der Optimisten. Seine Tragödien sind eine Offenbarung der sittlichen Weltordnung. Im “Lear” und “Hamlet” finden wir ein Vorausschauen nach etwas Besserem. Am Ende des Stückes ist irgendeine Persönlichkeit zurückgeblieben, das Unrecht zu richten, die Gesellschaft wiederherzustellen und den Staat von Neuem aufzubauen. Seine letzten Stücke “Der Sturm” und “Cymbeline” zeigen einen schönen sanften Optimismus der in Versöhnungen und Vereinigungen entzückt und einen Plan entwirft zum Triumphieren sowohl des äußeren wie des inneren Guten.

Wenn Browning weniger schwer zu lesen wäre, würde er sicherlich der herrschende Dichter in diesem Lande sein. Ich kann die Begeisterung nachfühlen, mit der er ausruft: “O gütiges gigantisches lächeln der braunen alten Erde an diesem Herbstmorgen!” Und wie setzt er mein Gehirn in Tätigkeit, wenn er sagt weil es Unvollkommenheit gibt, muß es auch Vollkommenheit geben; das Vollkommene muß aus dem Unvollkommenen hervorgehen; der Mangel ist ein Beweis der Fülle! Ja, der Mißklang besteht, damit es Wohlklang gibt; der Schmerz zerstört, damit die Freude wieder aufbauen kann; vielleicht bin ich taub und blind, damit andere mit gleichem Gebrechen Behaftete mit einem vollkommeneren Sinn sehen und hören können! Von Browning lerne ich, daß es kein verlorenes Gut gibt, und das macht es mir leichter, zu leben, das Beste zu tun, was ich kenne, es mag recht oder unrecht sein, und keine Furcht zu haben. Mein Herz antwortet stolz auf seine Aufforderung, freudig dem Leben seinen Tribut an Schmerz, Finsternis und Kälte zu entrichten. Nehmt eure Last auf euch, es ist Gottes Gabe und tragt sie großmütig!

Der Schriftsteller, dessen Stimme durchdringen soll, muss Optimist sein, und seine Stimme schöpft ihre Kraft und Bedeutung oft erst aus seinem Leben.

Das Leben Stevensons ist bereits zehn Jahre nach seinem Tode eine Tradition geworden. Er hat seinen Platz unter den Geistesheroen bekommen, der herrlichste Literat seit Johnson und Lamb. Ich entsinne mich einer Stunde, wo ich mutlos und nah dran war zu straucheln. Tagelang hatte ich mich an einer Aufgabe herumgequält, die sich nicht lösen lassen wollte. Mitten in meiner Verlegenheit las ich eine Abhandlung Stevensons, wobei ich das Gefühl bekam, als ob ich mich draußen gesonnt hätte, anstatt über einer schwierigen Aufgabe den Mut zu verlieren. Ich versuchte es wieder mit neuer Kraft und es gelang mir, fast ehe ich es merkte. Ich habe seitdem vielmals gefehlt, aber mich niemals wieder so niedergeschlagen gefühlt wie damals, bevor mir dieser starke Prediger meine Lektion erteilte “mit lächelnder Miene”.

Man lese Schopenhauer und Omar und man wird die Welt allmählich ebenso hohl und leer finden, wie sie selbst sie fanden. Liest man dagegen Greens “Geschichte Englands”, so erscheint einem die Welt von Helden bevölkert. Ich wusste nie, warum Greens Geschichte so stark und lebenswarm auf mich einwirkte wie ein Roman, bis ich seine Biografie las. Da erst begriff ich, wie seine rasche Fantasie die harten, nackten Tatsachen des Lebens in neue, lebendige Träume verwandelte. Als er und seine Frau zu arm waren, um sich Feuerungsmaterial zu kaufen, pflegte er mit ihr vor dem ungeheizten Kamin zu sitzen und sich einzubilden, es prassele ein wohltuendes Feuer darin. “Zwingt eure Gedanken”, sagte er, “verbannt die Düsteren und ruft die Heiteren herein. Es liegt eine tiefere Weisheit darin, manchmal die Augen zu verschließen, als eure Bücher-Philosophen zugeben wollen.”

Jeder Optimist fördert den Fortschritt und beschleunigt ihn, während jeder Pessimist die Welt aufhält. Die Folge des Pessimisten im Leben eines Volkes ist dieselbe wie im Leben des Individuums. Der Pessimismus ertötet den Trieb, der die Menschen drängt, gegen Armut, Unwissenheit und Verbrechen anzukämpfen und vertrocknet alle Quellen der Freude in der Welt. Im Geiste verlasse ich das Land, welches die Armen emporhebt, und besuche Indien, die Unterwelt des Fatalismus — wo dreihundert Millionen menschlicher Wesen, kaum Menschen, in Unwissenheit und Elend gesunken sind und sich noch immer tiefer in den Sumpf stürzen. Warum sind sie so? Weil sie ja Jahrtausendelang die Opfer ihrer Weltanschauung gewesen sind, die sie lehrt, dass die Menschen wie Gras sind, und dass das Gras vergeht, und es kein Grün mehr gibt auf Erden. Sie sitzen im Dunkeln und lassen sich von den Verhältnissen, die sie bemeistern sollten, niederdrücken, bis sie keine Menschen mehr sind, sondern Drahtpuppen, die tanzen und sich verbeugen, wenn man an ihnen zieht. Nach einem kurzen Leben kommt der Tod und trägt sie eilends zu Grabe, und andere Puppen mit anderen “Puppenleidenschaften und Wünschen” nehmen ihre Stelle ein, und so geht das Scheinleben fort, ein Jahrhundert um das andere.

Geht nach Indien und seht, welche Art Zivilisation sich entwickelt, wenn einer Nation der Glaube an den Fortschritt fehlt und sie sich den Göttern der Finsternis unterwirft! Unter dem Einfluss des Brahmanismus sind Streben und Ehrgeiz unterdrückt worden. Dort gibt es niemanden, der sich der Armen annimmt oder die Witwen und Waisen beschützt. Die Kranken werden nicht gepflegt. Die Blinden wissen nicht, wie man sehen, noch die Tauben, wie man hören kann. Sie werden vielmehr am Wege dem Tode überlassen. In Indien ist es eine Sünde, Blinde und Taube zu unterrichten, weil ihre Fehler als Strafen für Vergehen in einem früheren Zustande des Daseins angesehen werden. Wenn ich inmitten dieser fatalistischen Lehren geboren worden wäre, würde ich noch in Finsternis stecken, würde mein Leben noch eine Wüste sein, wo keine Karawane des Denkens zwischen meinem Geiste und der Außenwelt verkehren dürfte.

Die Hindus glauben an Dulden, aber nicht an Widerstand; darum sind sie von Fremden unterjocht worden. Ihre Geschichte ist eine Wiederholung derjenigen babylons. Ein Volk kam im Sturm von weit her, und keiner strauchelte oder schlief oder schlummerte, sondern sie brachten Verwüstung über das Land und nahmen den Bewohnern Stütze und Stab, die ganze Stütze des Brotes und die ganze Stütze des Wassers, den Herrscher, den Krieg, den Richter, den Propheten, den Weisen und den Alten, und niemand befreite sie.

Unheil, wahrhaftig ist das Erbe derjenigen, die trauernd und niedergeschlagen auf dieser herrlichen, herzerfreunden Erde wandeln, blind gegen ihre Schönheit und taub gegen ihre Musik. und derjenigen, die das Gute böse und das Böse gut nennen, und statt Licht Dunkelheit und statt Dunkelheit Licht setzen.

Was kümmern sich die wettergebräunten Söhne des Westens, die von der Erde Dakotas aus die Welt ernähren, um Brahminen und Omas? Sie würden den Hindus sagen: “Fort mit eurer Philosophie, die schon seit tausenden Jahren überlebt ist! Blickt mit frischen Augen in die Wirklichkeit und ins Leben! Räumt auf mit eurem Brahmas und krummbeinigen Götzen und seht euch fleißig um nach dem Erhalter Vishnu!”

Der Optimismus ist der Glaube, der zur Vollendung führt. Nichts kann getan werden ohne die Hoffnung. Als unsere Vorfahren den Grund zu dem amerikanischen Gemeinwesen legten, was stärkte sie da in ihrer Aufgabe als das Bild einer freien Gesellschaft, welches ihnen vorschwebte? An dem kalten, ungastlichen Himmel, über der weiten, schneebedeckten Wildnis, wo verborgene Wilde lauerten, leuchtete der Bogen der Verheißung — der Glaube, der Berge ebnet, Täler ausfüllt, Flüsse überbrückt und die Zivilisation an die äußersten Enden der Welt bringt. Obwohl diese Pioniere nicht nach dem hebräischen Ideal bauen konnten, das sie vor Augen hatten, lieferten sie doch das Modell zu allem, was in unserem Lande heute noch von größter Dauer ist. Sie brachten in die Wildnis den denkenden Verstand, das gedruckte Buch, den tief eingewurzelten Wunsch, sich selbst zu regieren und das englische allgemeine Recht, das den König und den Unterteilen gleich achtet, das Gesetz, worauf die ganze Einrichtung unserer Gesellschaft beruht. Und es ist bezeichnet daß die Grundlage dieses Gesetzes optimistisch ist. In den romanischen Staaten ist die Rechtsprechung auf einem pessimistischen, abschüssigen Untergrunde aufgebaut. Der Angeklagte wird für schuldig gehalten bis seine Unschuld nachgewiesen ist. In England und den Vereinigten Staaten ist die Voraussetzung optimistisch, dass der Angeklagte unschuldig ist, bis es nicht mehr möglich ist, seine Schuld zu leugnen. Man sagt, unter unserem System werden viele Verbrecher freigesprochen, aber es ist sicherlich besser so, als wenn viele unschuldige Menschen leiden müssten.

Der Pessimist ruft: “Es gibt kein dauerndes Gutes im Menschen! Die Tendenz aller Dinge strebt durch einen fortwährenden Verlust am Ende einem Chaos zu. Wenn es je eine Idee des Guten neben dem Bösen gegeben hat, so war sie ohnmächtig und die Welt stürzt weiter ihrem Untergang zu.” Aber bedenket wohl! Das Recht der zwei nüchternsten, praktischsten und das Gesetz am meisten achtenden Nationen der Erde setzt das Gute im Menschen voraus und verlangt einen Beweis vom Schlechten.

Optimismus ist der Glaube der zur Vollendung führt. Die Propheten der Welt sind von Vertrauen beseelt gewesen, sonst würden ihre Fahnen verlassen ohne Verteidiger auf dem Kampffelde gestanden haben. Tolstois Kritiken verlieren an Kraft, weil sie pessimistisch sind. Wenn er die Fehler Amerikas klar gesehen hätte und an dessen Fähigkeit glaubte sie zu überwinden, so hätte unser Volk den Ansporn seines Tadels vielleicht gefühlt. Aber hoffnungslosen Propheten kehrt die Welt den Rücken zu und hört lieber auf einen Emerson, der die besten Eigenschaften des Volkes anerkennt und nur die Fehler angreift, welche niemand verteidigen oder leugnen kann. Er lauscht dem starken Manne, Lincoln, der in Zeiten des Zweifels der Unruhe und der Not nicht wankt. Er sieht Erfolg in weiter Ferne und feuert eine Nation an, durch mannhaftes Hoffen, durch Hoffen gegen die Hoffnung. Durch die Nacht der Verzweiflung ruft er: “Es ist alles gut!”, und Tausende ruhen in seinem Vertrauen. Wenn ein solcher Mann tadelt und auf einen Fehler hinweist, gehorcht das Volk und seine Worte gehen zu Herzen und prägen sich tief ein. Aber die Klagelieder der gewohnheitsmäßigen Jeremias machen die Ohren taub.

Das sollten auch unsere Zeitungen bedenken. Die Presse ist die Kanzel der modernen Welt, und von den Predigern, die sie besteigen, hängt vieles ab. Wenn der Protest der Presse gegen ungerechte Maßregeln nützen soll, dann sollte 99 Tage das Textwort der Predigt erhebend sein und das Gute verkündigen, sodass am hundertsten Tage die Stimme des Tadels hundertmal stärker ertönen könnte. Das war Lincolns Art.

Er kannte die Menschen, er glaubte an sie und gründete seinen Glauben auf den Gerechtigkeitssinn und die Verständigkeit der großen Mehrheit. Wenn er in seiner rauen und kurzen Weise sagte: “Ihr könnt das ganze Volk nicht die ganze Zeit narren,” so sprach er damit einen großen Grundsatz aus, die Lehre vom Glauben an die menschliche Natur.

Der Prophet wird stets geehrt, es sei denn, dass er ein Pessimist ist. Die begeisterten Prophezeiungen des Jesajas trugen bei weitem mehr zum Rückzug der Israeliten in ihre Heimat bei, als die Klagelieder des Jeremias es taten, sie aus den Händen ihrer Bedrücker zu befreien. Erinnern sich nicht gerade zu Weihnachten die Menschen, dass Christus kam als ein Prophet des Guten? Sein froher Optimismus ist wie Wasser für fieberdurstige Lippen und findet seinen höchsten Ausdruck in den acht Seligpreisungen. Weil Christus ein Optimist ist, hat er durch viele Zeitalter die westliche Welt beherrscht. 19 Jahrhunderte lang hat die Christenheit in sein leuchtendes Antlitz geschaut und gefühlt, dass alle Dinge zusammenwirken zum Guten.

Auch St. Paulus lehrte den Glauben, der über die härtesten Dinge hinwegblickt nach dem unendlichen Horizont des Himmels, wo alle Beschränkungen fallen vor dem Lichte vollkommener Erkenntnis. Wenn ihr blind geboren seid, so suchet die Schätze der Dunkelheit. Sie sind kostbarer als Gold und Edelsteine. Sie sind Liebe und Güte und Wahrheit und Hoffnung, und ihr Preis ist höher als der von Rubinen und Saphiren.

Jesus bringt und Paulus verkündet eine Botschaft des Friedens und eine Botschaft der Vernunft, einen Glauben an die Idee, nicht an die Dinge, an die Liebe, nicht an Eroberungen. Ein Optimist ist derjenige, der einsieht, dass die Handlungen der Menschen nicht durch Geschwader und Armeen gelenkt werden, sondern durch moralische Kräfte, dass die Eroberungen Alexanders und Napoleons weniger dauernd sind als Newtons, Galilei’s und St. Augustinus' geräuschlose Besitzergreifung der Welt. Ideen sind mächtiger als Feuer und Schwert! Ohne Lärm verbreiten sie sich von Land zu Land und die Menschheit zieht hinaus und heimst die reiche Ernte ein und dankt Gott; aber die Leistungen des Kriegers sind wie sein Zelt: “heute ein Lager, morgen alles abgerissen und verschwunden, ein paar Gräben und Strohhaufen.” Das alles lehrte Jesus schon vor zwei Jahrtausenden. Weihnachten ist das Fest des Optimismus.

Obwohl es noch große Übel gibt, die noch nicht überwunden sind und der Optimist ihnen gegenüber nicht blind ist, so ist er doch voll Hoffnung. Kleinmütigkeit hat keinen Platz in seinem Glaubensbekenntnis, denn er glaubt an die unvergängliche Gerechtigkeit Gottes und an die Würdigkeit des Menschen. Die Geschichte zeigt das triumphierende Aufsteigen der Menschheit. Jede Stockung in ihrem Fortschritt ist nur eine Pause gewesen vor einem mächtigen Sprung vorwärts. Die Welt ist nicht aus den Fugen. Wenn wirklich einige der Tempel, in denen wir gebetet haben, eingestürzt sind, so haben wir neue erbaut auf dem geheiligten Grunde, höhere und ehrwürdigere als diejenigen die eingefallen sind. Wenn wir einige der heroischen körperlichen Eigenschaften unserer Vorfahren eingebüßt haben, so haben wir sie durch geistigen Adel ersetzt, der die Rache verschmäht und die Wunden der Besiegten verbindet. Alles, was die Menschheit in früheren Zeitläuften erreicht hat, ist unser und noch mehr: Die Ideale, die sie erträumt hatte, sind für uns klare Wirklichkeiten geworden. Darauf beruht unsere Hoffnung und unsere feste Zuversicht.

Faksimile einer Photokarte mit eigenhändiger Signatur von Helen Keller aus dem Jahr 1904


Da ich im Sonnenscheine eines echten und ernsten Optimismus stehe, so malt mir meine Fantasie “noch ruhmvollere Triumphe auf den Wolkenvorhang der Zukunft.” Aus den erbitterten Kämpfen der widerstreitenden Systeme und Kräfte sehe ich langsam eine glänzendere, geistige Ära emporsteigen — eine Ära, in der es kein England, kein Frankreich, kein Deutschland, kein Amerika, nicht dieses oder jenes Volk mehr geben wird, sondern nur eine Familie, das Menschengeschlecht, ein Gesetz, den Frieden, ein Bedürfnis, die Harmonie, ein Mittel, die Arbeit, einen Zuchtmeister, Gott.

Wenn ich versuchte, das Glaubensbekenntnis des Optimisten noch einmal zu formulieren, so würde ich es ungefähr folgendermaßen zusammenfassen:

“Ich glaube an Gott. 
Ich glaube an den Menschen. 
Ich glaube an die Macht des Geistes. 
Ich glaube, dass es eine heilige Pflicht ist, uns selbst und andere zu ermutigen, 
Kein unglückliches Wort über Gottes Welt über unsere Lippen zu bringen, 
Weil kein Mensch ein Recht hat, sich über ein Weltall zu beklagen, 
Das Gott gut geschaffen hat und das gut zu erhalten 
Sich tausende von Menschen bestrebt haben. 
Ich glaube wir sollen so handeln, daß wir uns immer mehr dem Zeitalter nähern, 
Wo kein Mensch in Wohlbehagen und Überfluß leben soll, 
Während ein anderer leidet und darbt.

Das sind die Artikel meines Glaubens, und dann gibt es noch etwas, wovon alles abhängt, — diesen Glauben aufrecht zu erhalten gegen jeden Sturm, der gegen ihn anbraust und ihn zum Grundpfeiler zu machen in Unglück und Trübsal. Der Optimismus ist die Harmonie zwischen dem Geiste des Menschen und dem verheißenden Geiste Gottes. Seine Werke sind gut.

Morgenstunden ist eine von Lesern unterstützte Publikation. Um neue Posts zu erhalten und meine Arbeit zu unterstützen, ziehen Sie in Betracht, ein Free- oder Paid-Abonnent zu werden.

Diskussion über diese Episode