Morgenstunden
Morgenstunden-Podcast
Äußerer Optimismus
0:00
-24:24

Äußerer Optimismus

Von Helen Keller

Optimismus, ein Glaubensbekenntnis

Von Helen Keller

Autorisiert. Deutsch von Dr. Rudolf Lautenbach

Meiner Lehrerin Anne Mansfield Sullivan zugeeignet

[Hier klicken für Teil 1, Innerer Optimismus]

2. Äußerer Optimismus

Der Optimismus ist also meine fest innere Überzeugung. Aber auch wenn ich hinausblicke ins Leben, stoße ich damit nicht auf Widersprüche. Die Außenwelt rechtfertigt meine optimistische Auffassung. Während der ganzen Zeit, die ich auf der Hochschule zugebracht habe, ist mein Studium eine fortwährende Entdeckung des Guten gewesen. In der Literatur, der Philosophie, der Religion und der Geschichte finde ich die starken Zeugen meines Glaubens. Die Philosophie ist die in großen Lettern geschriebene Geschichte einer tauben und blinden Person. Von Sokrates über Plato und Berkeley bis auf Kant bezeichnet die Philosophie die Anstrengungen des menschlichen Geistes, sich von der Last der materiellen Welt freizumachen und hinwegzufliegen in ein All der reinen Idee. Für einen taubblinden Menschen sollte die ideale Welt Platos eine besondere Bedeutung und Anziehungskraft haben.

Die Dinge, die ihr seht, hört und fühlt, sind nicht die Wirklichkeit der Wirklichkeiten, sondern unvollkommene Manifestationen der Idee, des Prinzips des Geistes. Die Idee ist die Wahrheit, das Übrige ist Täuschung. Wenn dem so ist, so kennen meine Mitmenschen, die im Vollbesitz ihrer Sinne sind, keine Wirklichkeit, die nicht ebenso gut im Bereich meiner Erkenntnis liegt. Die Philosophie gibt dem Geiste das Vorrecht, die Wahrheit zu sehen und trägt uns in Regionen, wo ich, die ich blind bin, nicht verschieden bin von euch, die ihr seht.

Als ich von Berkeley lernte, dass eure Augen ein umgekehrtes Bild der Gegenstände empfangen, welches euer Gehirn unbewusst korrigiert, begann ich zu vermuten, dass das Auge demnach kein sehr zuverlässiges Instrument ist und ich fühlte mich als Mensch, der mit den übrigen auf gleiche Stufe gestellt worden war. Ich freute mich, nicht etwa, weil diesen die Sinne so wenig nützen, sondern weil in Gottes ewiger Welt Gemüt und Geist die Hauptrolle spielen. Es kam mir vor, als ob jene Philosophie zu meinem besonderen Trost geschrieben wäre. Womit ich mich in gewissem Sinne einigen modernen Philosophen nähere, die offenbar der Ansicht sind, dass ich geschaffen worden sei, um einen Schulfall zu ihrer Belehrung abzugeben. Aber in geringerem Maße befindet sich doch meine schwache Stimme individueller Erfahrung im Einklang mit dem philosophischen Satz, dass das Gute die einzige Welt ist und dass diese Welt eine geistige Welt ist. Sie ist doch ein Universum, wo die Ordnung alles ist, wo eine unumstößliche Gesetzmäßigkeit die Teile zusammenhält, wo Unordnung nichts als Nichtsein definiert, wo das Übel, wie St. Augustin behauptete, Trug, also nicht ist.

Die Bedeutung der Philosophie für mich besteht nicht nur in ihren Grundsätzen, sondern auch in der glücklichen Abgeschlossenheit ihrer großen Lehrer. Sie waren selten von der Welt, selbst wenn sie wie Plato und Leibniz sich in ihren Salons bewegten. Gegen den Lärm des Lebens waren sie taub und sie waren blind seinen Zerstreuungen und Ablenkungen gegenüber. Allein sitzend, aber nicht in Dunkelheit, lernten sie alles in sich selbst finden. Und wenn sie es da auch nicht finden konnten, hatten sie das Vertrauen, die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht zu schauen, wann sie die Erde hinter sich lassen und der Weisheit Gottes teilhaftig würden.

Die großen Mystiker lebten einsam, taub und blind, aber in Gott. Ich verstehe, wie es Spinoza möglich war, Schlaf zu finden und glücklich zu bleiben, als er ausgestoßen, arm, verachtet und in gleicher Weise von Jude und Christ verdächtigt war. Nicht etwa, weil die gütige Menschheit mich je in dieser Weise behandelt hätte, sondern weil seine Abgeschiedenheit von der Welt der sinnlichen Freuden der meinigen etwas ähnlich ist. Er liebte das Gute um des Guten selbst Willen. Wie viele andere großen Geister behauptete er seinen Platz in der Welt und vertraute wie ein Kind einer höheren Macht, von der er glaubte, dass sie durch ihn wirke und sein Sein beherrsche. Er hatte ein unbedingtes Vertrauen, und das habe ich auch. Ein tiefer, erhabener Optimismus sollte, wie mir scheint, diesem starken Glauben an die Gegenwart Gottes im Individuum entspringen. Eines Gottes, der nicht ein ferner, unnahbarer Beherrscher des Weltalls ist, sondern der einem jeden von uns sehr nahe ist, der gegenwärtig ist, nicht nur auf der Erde, im Wasser und im Himmel, sondern auch in jeder reinen und edlen Regung unseres Herzens, der Anfang und der Mittelpunkt aller Gedanken, ihr einziger Ruhepunkt.

So lehrt mich die Philosophie, daß wir nur Schatten sehen und nur zum Teil erkennen und daß alle Dinge dem Wechsel unterworfen sind. Aber der Geist, der unbesiegliche Geist umfasst alle Wahrheit, umschlingt das Universum, wie es ist, verwandelt die Schatten in Wirklichkeiten und lässt lärmende Umwälzungen nur als Augenblicke erscheinen in dem ewigen Schweigen, oder als kurze Strecken auf der unendlichen Bahn der Vervollkommnung, und das Böse bloß als einen Haltepunkt auf dem Wege zum Guten.

Obwohl ich mit meiner Hand nur einen winzigen Teil des Weltalls umspanne: mit meinem Geiste sehe ich das Ganze! Und mit meinem Denkvermögen kann ich die segensreichen Gesetze erfassen, nach denen es regiert wird. Das Vertrauen und der Glaube, den mir diese Vorstellungen einflößen, lehren mich, sicher zu ruhen in meinem Leben wie in einem Fatum, und schützen mich vor eingebildeten Zweifeln und Furcht. Wahrhaftig, selig sind jene, die nicht sehen und doch glauben.

Alle großen Philosophen der Welt haben Gott geliebt und an die innere Güte des Menschen geglaubt. Die Geschichte der Philosophie kennen heißt wissen, dass die hervorragendsten Denker aller Zeiten, die Seher der Stämme und Völker, Optimisten gewesen sind.

Philosophie ist die Geschichte des geistigen Lebens der Menschheit. Außerhalb ihres Begriffes liegt die große Menge von Ereignissen, die wir Geschichte nennen. Wenn ich diese Masse betrachte, sehe ich sie selbst Form und Gestalt annehmen nach den wegen Gottes. Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte des Fortschritts.

In der inneren wie auch der äußeren Welt erblicke ich eine wunderbare Übereinstimmung, eine glorreiche Versinnlichung, welche die Verbindung des Menschlichen und Göttlichen dartut, die Lehre der durch die Tatsachen wiederholten Philosophie. In allen Teilen, aus denen sich die Geschichte der Menschheit zusammensetzt, steckt der Geist des Guten und gibt dem allen erst den richtigen Sinn.

In grauer Vorzeit sehe ich den Wilden vor den Naturkräften fliehen, die er nicht zu beherrschen gelernt hat, und übernatürliche Wesen zu versöhnen suchen, die nur Schöpfungen seiner abergläubischen Furcht sind. Als sich seine Einbildungskraft geändert hat, sehe ich den Wilden davon befreit, zivilisiert. Er verehrt nicht länger die grausamen Gottheiten der Unwissenheit. Durch Leiden hat er gelernt, ein Dach über seinem Haupt zu errichten, sein Leben und sein Heim zu verteidigen, und über seinem Staat hat er einen Tempel erbaut, worin er die heiteren Götter des Lichtes und des Gesanges verehrt. Vom Dulden hat er Gerechtigkeit gelernt. Vom Kampf mit seinem Nebenmenschen hat er die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht gelernt, was ihn zu einem sittlichen Wesen macht. Er ist ausgestattet mit dem Genius Griechenlands.

Aber Griechenland war nicht vollkommen. Seine poetischen und religiösen Ideale standen weit über seiner Praxis. Deshalb musste es zugrunde gehen, damit seine Ideale überleben und kommende Zeitalter befruchten und veredeln konnten. Auch Rom hinterließ der Welt eine reiche Erbschaft. Durch die Wechselfälle der Geschichte hindurch haben seine Gesetze und seine geordnete Regierung sich als ein erhabenes Vorbild für lange Epochen erhalten. Aber als der strenge und einfache Charakter seiner Bevölkerung aufhörte, das Mark und den Nerv seiner Zivilisation zu sein, fiel Rom. Dann kamen die neuen Nationen des Nordens und gründeten eine dauernde Gesellschaft.

Die Grundlage der griechischen und römischen Gesellschaft bildete der Sklave, der in die Lage der Elenden gestoßen war, die auf dem Felde und in der Werkstatt arbeiten wie angespannte Pferde, die umso ruhiger gehen, wenn sie blind sind.

Die Basis der neuen Gesellschaft war der Freie, der kämpfte, pflügte, richtete und immer mehr und mehr an Bedeutung gewann. Er arbeitete sich aus dem Zustand der bloßen Stammverwandtschaft heraus und kultivierte einen Unabhängigkeitssinn und ein Selbstvertrauen, das keine Opposition zerstören konnte. Die Geschichte von der Menschheit langsamen Aufstieg, von der Wildheit durch die Barbarei und Selbstherrschaft zur Zivilisation ist die Verkörperung des Geistes des Optimismus. Von der ersten Stunde der neuen Völker hat jedes Jahrhundert Europa besser gesehen, bis die Entwicklung der Welt ein Amerika erforderte.

Helen Keller im Spiegel der Zeit

Tolstoi sagte jüngst, dass Amerika, einst die Hoffnung der Welt, in den Fesseln des Mammons liege. Tolstoi und andere Europäer müssen sich über dieses große freie Land noch viel besser unterrichten, ehe sie das gewaltige bürgerliche Ringen verstehen, das sich in Amerika vollzieht und nicht seinesgleichen hat. Es sieht sich vor die Aufgabe gestellt, alle die Fremden zu assimilieren, die sich aus allen Ländern hier zusammengezogen haben und sie zu einem Volk und einem nationalen Geist zusammenzuschweißen. Wir haben das Recht, die Geduld der Kritiker zu verlangen, bis die Vereinigten Staaten gezeigt haben, ob sie aus allen Nationen der Erde ein Volk zu machen imstande sind.

Londoner Volkswirtschafter beunruhigen sich über nicht ganz 500.000 Ausländer bei einer Bevölkerung von 6 Millionen und erörtern ernstlich die Gefahr zu vieler Fremden. Aber was will deren Problem heißen gegen dasjenige New Yorks, das nahezu 1.500.000 Fremde zählt bei seinen 3,5 Millionen Einwohnern? Man stelle sich das vor! Jeder dritte Mensch in unserer amerikanischen Metropolis ist ein Ausländer. Nach diesen Ziffern allein lässt sich Amerikas Größe bemessen.

Es ist wahr, dass sich Amerika in weitgehendem Maße der Lösung materieller Probleme zugewandt hat, indem es das Land urbar machte, Bergwerke anlegte, Wüsten bewässerte, den Kontinent mit Schienenwegen umspannte, indem es seine Leute erzieht, jedermanns Geschicklichkeit in den Dienst jedermanns Bedürfnisse stellt. Es verwandelt seinen industriellen Reichtum in die Bildung seiner Arbeiter, so daß unfähige Menschen keinen Platz im amerikanischen Leben haben, so daß alle Menschen mit Leib und Seele die gemeinsame Sache fördern sollen.

Amerika mag das alles tun und selbstsüchtig sein. Es mag auch jetzt noch ein Verehrer des Mammons sein. Aber Amerika ist ebenso gut die Heimat der Nächstenliebe wie diejenige des Handels. Mitten im Wogen des Verkehrs, Seite an Seite mit lärmenden Fabriken und himmelhohen Warenhäusern, sieht man Schulen, Bibliotheken, Krankenhäuser, Parkanlagen, Werke der öffentlichen Fürsorge, welche den in unvergängliche Ideen umgewandelten Reichtum vorstellen.

Man behalte stets vor Augen, was Amerika schon getan hat, um das Leiden zu lindern und die Unglücklichen zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen. Es hat die Finger der Blinden sehend, die Lippen der Stummen sprechend und den dumpfen Geist der Schwachsinnigen lebend gemacht. Und nun sage man mir, ob es einzig dem Mammon dient.

Wer vermag das Mitgefühl, den Aufwand an Geschicklichkeit und Intelligenz zu ermessen, den es allen entgegenbringt, die zu ihm kommen? Und womit es die Sturmflut von Armut, Elend und Verkommenheit verringert, die alle Jahre von allen Völkern durch seine Tore hereinstürmt? Wenn ich mir all diese Tatsachen vorstelle, so muss ich mir sagen, dass es trotz Tolstoi und anderer Theoretiker ein herrlich Ding ist, amerikanischer Bürger zu sein.

In Amerika findet der Optimist im Überfluss Grund zum Vertrauen auf die Gegenwart und zur Hoffnung auf die Zukunft. Und diese Hoffnung, dieses Vertrauen können sich wohl über alle großen Nationen der Erde ausdehnen. Wenn wir unsere Zeit mit Vergangenen vergleichen, so finden wir in der modernen Statistik eine feste Begründung für einen vertrauensvollen und immer mehr um sich greifenden Weltoptimismus. Unter dem Zweifel, der Unruhe, dem Materialismus, die uns noch umgeben, glüht und brennt in dem besten Leben der Welt ein fester Glaube.

Wenn man den Pessimisten hört, könnte man meinen, die Zivilisation hätte im Mittelalter ihren Höhepunkt erreicht und seitdem keinen Schritt vorwärts getan. Er macht sich nicht klar, dass der Fortschritt der Evolution kein ununterbrochener Marsch ist.

Bald berührend, bald rückwärts geschleudert,
treibt unaufhaltsam vor die Welt.

Ich habe kürzlich eine Denkschrift von einem Manne gelesen, dessen Kenntnisse sehr umfassend sind und dessen Angaben und Urteile Beachtung beanspruchen können. Darin finde ich eine Menge Beweise vom Fortschritt.

Während der letzten 50 Jahre hat das Verbrechen abgenommen. Zwar verzeichnen die heutigen Listen eine längere Reihe von Vergehen, aber unsere Statistiken sind eben vollständiger und genauer als die Statistiken früherer Zeiten. Außerdem erhalten die Verzeichnisse viele Vergehen, die vor einem halben Jahrhundert kein Mensch als solche aufgefasst hätte. Das beweist, dass das Volksgewissen empfindsamer ist, als es je war. Unser Begriff vom Verbrechen ist feiner, unser Strafvollzug humaner und einsichtsvoller geworden. Das alte Gefühl der Rache ist in weiten Kreisen geschwunden. Es heißt nicht mehr “Auge um Auge, Zahn um Zahn”. Der Verbrecher wird als Kranker behandelt. Er wird nicht nur zur Bestrafung eingesperrt, sondern weil er eine drohende Gefahr für die Gesellschaft bildet. Während er im Gefängnis eingeschlossen ist, wird er mit Milde und Sorgfalt behandelt, damit seine Seele von der Krankheit geheilt und er für die Gesellschaft wiederhergestellt werden soll, fähig seinen Anteil an ihrem Werk beizutragen.

Ein weiteres Anzeichen des erwachten und aufgeklärten Volksgewissens ist das Streben, die arbeitende Klasse mit besseren Wohnungen zu versorgen. Kam es vor 100 Jahren jemand in den Sinn, sich darum zu bekümmern, ob die Wohnungen der Armen gesund, praktisch oder sonnig seien? Man vergesse nicht, dass in der “guten alten Zeit” Cholera und Typhus ganze Länder verwüsteten und dass die Pestilenz in den Großstädten Europas sich breit machte. Unsere arbeitenden Volksschichten haben nicht nur bessere Häuser und Arbeitsstätten, sondern die Arbeitgeber erkennen auch das Recht der Arbeitnehmer an, mehr zu erstreben als den bloßen Lohn zum Leben.

Bei der Undeutlichkeit und der Hast unserer modernen Bestrebungen erkennen wir nun dunkel die Prinzipien, welche diesem Ringen zugrunde liegen. Die Anerkennung des Rechts aller Menschen auf Leben, Freiheit und Streben nach Glückseligkeit. ein Geist der Versöhnung, wie ihn Burke erträumte, die Geneigtheit auf Seiten der Starken den Schwachen Zugeständnisse zu machen. Die Einsicht, dass die Rechte des Unternehmers begrenzt sind durch die Rechte des Angestellten. In dem allen erblicken die Optimisten die Kennzeichen unserer Zeit.

Ein anderes Recht, das der Staat jedem Menschen zuerkannt hat, ist der Anspruch auf Erziehung und Bildung. In den zivilisierten Teilen Europas und in Amerika hat jede Stadt und jedes Dorf seine Schulen. Und es gibt keine bevorzugte Klasse mehr, die allein Zutritt zur Wissenschaft hat, denn auch den Kindern des ärmsten Arbeiters sind die Pforten der Schule geöffnet. Bei den zivilisierten Nationen vertreibt die allgemeine Bildung Stumpfheit und Unwissenheit. Die Bildung breitet sich aus, um alle Menschen in ihre Kreise zu schließen und vertieft sich, alle Wahrheiten zu ergründen. Die Schüler beschränken sich nicht mehr auf Griechisch, Lateinisch und Mathematik, sondern sie studieren auch Naturwissenschaften. Und die Naturwissenschaften verwandeln die Träume des Dichters, die Sätze des Mathematikers und die Lehre des Volkswirtschaftlers in Schiffe, Krankenhäuser und Maschinen, die eine geschickte Hand in den Stand setzten, die Arbeit von tausend Händen zu verrichten.

Der Student wird heutzutage nicht gefragt, ob er seine Grammatik gelernt hat. Ist er ein bloßer Grammatikautomat, ein trockener wissenschaftlicher Katalog, oder hat er die Qualität des [Menschen] erworben? Seine oberste Aufgabe ist es, große öffentliche Fragen behandeln zu lernen, seinen Geist für neue Ideen und neue Ansichten von der Wahrheit aufnahmefähig zu erhalten, die feineren Ideale wiederherzustellen, die im Ringen nach äußeren Gütern aus dem Gesichtskreis verloren sind, und die Gerechtigkeit zwischen Menschen und Menschen zu fördern. Er lernt, dass menschliche Arbeit durch Pferdekräfte, Maschinen und Bücher ersetzt werden kann, aber es gibt keinen Ersatz für praktischen Sinn, Geduld, Rechtschaffenheit, Mut.

Wer kann die weite Ausdehnung und die hohe Vervollkommnung der Erziehung und Bildung bezweifeln, wenn er sich vergegenwärtigt, wie ganz anders die Lage der Blinden und Taubstummen ist als vor einem Jahrhundert. Damals waren sie der Gegenstand abergläubischen Mitleids und teilten das Los des niedrigsten Bettlers. Jedermann betrachtete ihren Zustand als hoffnungslos und diese Aussicht stürzte sie noch tiefer in die Verzweiflung. Die Blinden selbst lachten Howe ins Gesicht als er sich erbötig machte, sie lesen zu lehren. Wie bedauernswert ist der in Vorurteilen befangene menschliche Geist, der die Menschen lehrt, nichts gutes zu erwarten und jeden versuch, ihnen Erleichterung zu verschaffen als den Ausfluß eines krankhaften Gehirns anzusehen.

Aber jetzt, welch ein Umschwung! Man sehe, wie Institute und gewerbliche Einrichtungen für Blinde wie Pilze aus der Erde geschossen sind. Man sehe, wie viele von den Taubstummen nicht allein lesen und schreiben, sondern auch sprechen gelernt haben. Man erinnere sich, dass der Glaube und die Geduld des Dr. Howe Früchte getragen haben in den Anstrengungen, die überall gemacht werden, die Blinden und Tauben zu unterrichten und für den Kampf ums Dasein auszurüsten. Wundert Ihr Euch da, dass ich voller Hoffnung und emporgehoben bin?

Der höchste Erfolg der Bildung ist die Toleranz. In früheren Zeitaltern kämpften und starben die Menschen für ihren Glauben, aber es nahm Jahrhunderte in Anspruch, ihnen die andere Art des Mutes begreiflich zu machen. Den Mut, die Überzeugung ihrer Mitmenschen und das Recht auf Gewissensfreiheit anzuerkennen.

Die Toleranz ist der oberste Grundsatz jeder Gemeinschaft. Sie ist der Geist, der das Beste bewahrt, was alle Menschen denken. Kein Verlust durch Wasser und Feuer, keine Zerstörung von Städten und Tempeln durch feindliche Naturkräfte haben die Menschheit so vieler edler Leben und Impulse beraubt, wie die Intoleranz vernichtet hat. Mit Staunen und Betrübnis gehe ich in Gedanken auf die Zeiten der Unduldsamkeit und Bigotterie zurück. Ich sehe Jesus mit Verachtung und Spott empfangen und ans Kreuz geschlagen. Ich sehe seine Nachfolger gehetzt, gequält und verbrannt. Ich versetzte mich in die Zeit, wo die feineren Geister, die sich gegen den Aberglauben des Mittelalters auflehnten, der Ketzerei angeklagt und zertreten wurden. Ich halte mir vor Augen, wie die Kinder Israels geschmäht und zu Tode verfolgt wurden von denen, die sich mit dem Munde zum Christentum bekennen. Ich sehe sie von Land zu Land gejagt, von Ort zu Ort getrieben, als Verräter angeschuldigt, gepeitscht, verspottet, als sie unter dem Schmerz der Folter ein Geständnis des Glaubens ablegten, den sie mit so bewundernswerter Standhaftigkeit bewahrt haben. Dieselbe Bigotterie, welche die Juden unterdrückt, stürzt sich wie ein Tiger auf die Christen, die nicht orthodox sind, und vertreibt die Albingenser und die feindlichen Waliser, deren Gebeine “auf den rauen Bergen bleichen”.

Ich sehe die Wolken sich langsam zerteilen und ich vernehme einen Schrei der Entrüstung gegen die Frömmler. Die hemmende Hand der Toleranz ist auf den Inquisitor gelegt und der Humanist verkündet eine Botschaft des Friedens für die Verfolgten. Anstatt des Rufes »Verbrennt die Ketzer« studieren die Menschen die menschliche Seele mit tiefem Mitgefühl und in ihre Herzen zieht eine neue Ehrfurcht ein vor dem, was man nicht sieht.

Die Idee der Brüderlichkeit dämmert wieder auf in der Welt und zwar in einem weiteren Sinne als die enge Vereinigung von Gliedern einer Sekte oder einer Konfession. Und Denker mit einer großen Seele wie Lessing fordern die Menschlichkeit auf zu erklären, was gottähnlicher sei, der Hass und der Kampf der widerstreitenden Religionen bis aufs Messer oder liebliche Harmonie und gegenseitige Hilferreichung.

Das alte Vorurteil des Menschen gegen seinen Nächsten nimmt ab und weicht vor dem Glanze eines großmütigeren Empfindens, das nicht der Form die Menschen opfern, noch sie der Annehmlichkeit und Kraft berauben will, welche sie in ihrem eigenen Glauben finden. Die Ketzerei des einen Zeitalters geht über in den richtigen Glauben des Nächsten. Bloße Toleranz hat einem Gefühl der Brüderlichkeit zwischen aufrichtigen Menschen aller Bekenntnisse und Anschauungen Platz gemacht.

So finde ich denn, wenn ich unsere Zeit betrachte, dass ich froh sein kann, eine Weltbürgerin zu sein, und wenn ich mein Vaterland ansehe, finde ich, dass Amerikaner zu sein gleichbedeutend ist, mit Optimist zu sein. Ich kenne die unglückliche und unberechtigte Geschichte, die unter unserer Flagge auf den Philippinen passiert ist. Aber ich bin der Meinung, dass in den Zufälligkeiten der Politik die beste Einsicht des Volkes manchmal nicht zum Ausdruck kommt. Ich lese in der Geschichte Julius Cäsars, daß es während der Bürgerkriege Millionen friedlicher Hirten und Arbeiter gab, die so lange arbeiteten wie sie konnten und vor den heranrückenden Armeen flohen, die von einigen wenigen geführt wurden; dann warteten, bis die Gefahr vorüber war und wieder zurückkehrten und geduldig die Schäden ausbesserten. Die Völker sind also geduldig und ehrlich während ihre Herrscher straucheln.

Ich freue mich, in der Welt und in diesem Lande einen neuen und besseren Patriotismus zu sehen als den, der seinem Feinde nach dem Leben trachtet. Es ist ein höherer Patriotismus als derjenige des Schlachtfeldes. Er bewegt Tausende, ihr Leben in den Dienst des sozialen Fortschritts zu stellen; und jedes Leben, das dafür geopfert wird, bringt uns der Zeit einen Schritt näher, wo Kornfelder keine Schlachtfelder mehr sein sollen.

Teil 3, Praktischer Optimismus

Morgenstunden ist eine von Lesern unterstützte Publikation. Um neue Posts zu erhalten und meine Arbeit zu unterstützen, ziehen Sie in Betracht, ein Free- oder Paid-Abonnent zu werden.

Diskussion über diese Episode