Prometheus: "Ich diene nicht Vasallen!"
Über die unveräußerliche Würde des Menschen und wie die Klassik hilft, den Verstand zu schärfen und den Charakter zu bilden
Lieber Miko,
nach dem Vortrag über Friedrich Schiller und das unendliche Spiel in der vergangenen Woche möchte ich heute etwas ausführlicher auf das dort erwähnte Geschenk des Prometheus eingehen.
Die antike griechische Mythologie beschreibt den archaischen Blick auf die Entstehung der Welt. Der Theogonie des Dichters Hesiod zufolge wurde die Welt Gaia (Erde) aus dem Chaos geboren. Sie gebar mit Uranos unter anderem die Titanen. Das waren Götter in Gestalt menschlicher Riesen. Einer dieser Titanen war Prometheus. Sein Name bedeutet “Vorausdenker”.
Auch nach der Erschaffung der Welt bestanden weiterhin sehr chaotische Zustände, wenn man der Mythologie Glauben schenken möchte. Uranos wurde von seinem Sohn Kronos gestürzt. Dem widerfuhr das gleiche Schicksal, als sich seine Kinder, die Kronoiden, unter ihrem Anführer Zeus gegen ihn erhoben.
Wie der Dichter Aischylos1 beschreibt, war in diesem Streit Prometheus auf der Seite des Zeus, was jedoch nicht dauerhaft so blieb: Aischylos legt dem Prometheus diese Worte in den Mund:
Als Groll und Zwietracht sich im Götterreich
Erhob, half ich dem Zeus, als Freund dem Freund.
Mit diesen Ketten hat er mir's gelohnt.
Wenn ihr mich fragt, für welche Schuld er mich
So schwer mißhandelt, das sei euch nun gesagt:
Sobald er seines Vaters Thron bestieg,
Teilt er den Göttern ihre Ehren aus,
Dem dies, dem jenes, ordnend seine Macht.
Doch für die armen Menschen tat er nichts.
Ja, er beschloß, sie auszurotten und
Sie zu ersetzen durch ein andres Volk.
Dagegen trat kein andrer auf als ich.
Ich hab's gewagt, bewahrte sie davor,
Daß allesamt der Hades sie verschlang.Doch was die Menschen litten, tu ich kund.
Die einst im Dunkeln tappten, denen lieh
Ich den Verstand, des Denkens Sicherheit.
Es ist kein Vorwurf für die Menschen, wenn
Ich euch berichte, was ich ihnen gab.
Sie hatten Augen, doch sie sahen nicht,
Ohren und hörten nicht; wie Traumgestalt
Verwirrten alles sie ihr Leben lang,
Blindlings. Sie wußten nichts vom Ziegelbau
Der trocknen Häuser, Zimmermannes Werk.
Ameisenschwärmen ähnlich hausten sie
In ihrer tiefen Höhlen Dämmerlicht.
Und keiner wußte, wann der Winter kam,
Der Blütenfrühling noch des Sommers Frucht.
Ganz ohne klares Wissen war ihr Tun,
Bis ich die schwere Kunde ihnen wies
Von der Gestirne Auf- und Niedergang.
Die höchste Weisheit lehrt ich sie, die Zahl,
Der Schrift Gefüge, der Bewahrerin,
Kunstreicher Mutter aller Wissenschaft.
Als erstes spannt ich wildes Tier ins Joch;
Im Zaumzeug, unterm Sattel nehmen sie
Dem Menschen seine größten Mühen ab,
Den Wagen zieht das zügelfrohe Pferd,
Der höchste Prunk und Stolz des reichen Herrn,
Und für die Meerflut hat kein anderer
Das Fahrzeug mit dem Flügeltuch erdacht.Vor allem, wenn ein Mensch in Krankheit fiel,
Gabs keine Abwehr, keine Arzenei,
Nicht Trank noch Salbe; aller Mittel bar
Verwelkten sie, bis ich sie lehrte, wie
Man aus den Kräutern einen Heiltrank braut,
Der jede Krankheit aus dem Körper treibt.Den Segen, den der Erdenschoß verbirgt,
Erz, Eisen, Silber, Gold, wer wagt es noch,
Zu sagen, daß er ihn vor mir entdeckt?
Doch nur ein Mund, der sich im Lügen übt!
Und faß ich alles in ein kurzes Wort:
Prometheus hat sie jede Kunst gelehrt.
Aus diesen Zeilen spricht eine große Fürsorge und Liebe für die Menschen. Du erinnerst dich, dass wir im vergangenen Jahr Prometheus schon einmal behandelt haben? Beethoven hatte ein Ballett komponiert über die “Geschöpfe des Prometheus”.
Der Punkt, auf den ich hinaus möchte ist weniger die Frage, wie genau die Schöpfung des Menschen erfolgte (wir werden es nicht wissen, sondern können nur glauben), sondern die agapische Liebe, die der Mythos des Prometheus transportiert.
Diese Liebe ist von der Überzeugung geprägt, dass die Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden und untereinander gleich würdig sind. Dies wird in einem fragmentarischen (unfertigen) Stück über Prometheus deutlich, welches Schillers Freund Goethe in jungen Jahren zu Papier zu bringen begann. Es wurde nie vollendet, aber in seinem unfertigen Zustand doch 1774 bereits öffentlich aufgeführt.
Darin setzt sich Goethe mit einigen Grundfragen auseinander, u.a. auch mit der Vergänglichkeit und dem Tod als natürlichem Begleiter des Menschen. Aber er geht ausführlicher noch auf die Anmaßung ein, mit der sich einige Zeitgenossen als würdiger als andere halten. Diese Kritik an den damaligen Zuständen des Absolutismus kleidet er freilich in die Debatte zwischen den Göttern, zu denen als Titan auch Prometheus zählt.
Goethe lässt ihn mit Merkur streiten:
Merkur.
Elender! Deinen Göttern das,
Den Unendlichen?Prometheus.
Göttern? Ich bin kein Gott
Und bilde mir so viel ein als einer.
Unendlich? – Allmächtig? –
Was könnt ihr?
Könnt ihr den weiten Raum
Des Himmels und der Erde
Mir ballen in meine Faust?
Vermögt ihr mich zu scheiden
Von mir selbst?
Vermögt ihr mich auszudehnen,
Zu erweitern zu einer Welt?Merkur.
Das Schicksal!Prometheus.
Anerkennst du seine Macht?
Ich auch! –
Und geh, ich diene nicht Vasallen!
Hier wird sehr deutlich, dass es wohl höhere Mächte gibt (hier Schicksal genannt), aber dass jene, die sich für Götter halten (also für besser und mächtiger) auch nur Vasallen (dieser höheren Mächte, also Gottes) sind.
Prometheus lehnt es ab, sich ihrem Diktat unterzuordnen und wendet sich nach der Abfuhr, die er dem Merkur (dem römischen Götterboten griechisch: Hermes) erteilt wieder liebevoll den Menschen zu, deren Vernunftbegabung er erkennt, ebenso wie die Notwendigkeit, dass der Mensch einer guten Bildung bedarf, um vernünftig im Frieden miteinander zu leben. Er bedarf der Bildung, weil seine Seele (und sein Gewissen) zwar unsterblich, aber auch rein, unschuldig und verletzlich sind, wenn er geboren wird. Gleichzeitig hat der Mensch in Konsequenz der göttlichen Liebe den freien Willen gefordert (als er vom Baum der Erkenntnis aß) und erhalten. Diesen Willen sittlich und moralisch stets zum Wohle der Schöpfung auszuprägen, erfordert einen gefestigten Charakter und moralische Integrität. Die Vernunft muss (aus)gebildet werden.
Viktor Frankl ist ein Mann, der ohne Zweifel hohe moralische Integrität und einen gefestigten Charakter besaß, denn er konnte trotz unsagbaren Leids und unmenschlichster Zustände “… trotzdem Ja zum Leben sagen”, wie der Titel seines sehr beeindruckenden Buches lautet.
Frankl hat zum Thema “Ebenbildlichkeit” (und damit zum Thema der Transzendenz, also der Zugehörigkeit zu und Abstammung von einer höheren Kraft) in seinem Buch “Der unbewusste Gott” geschrieben:2
“Sollte also die Sprache irren, wo sie von einer Stimme des Gewissens spricht? Denn das Gewissen könnte ja schon darum nicht ‘Stimme haben’, weil es ja selber Stimme ‘ist’ – Stimme der Transzendenz. Diese Stimme hört der Mensch nur ab – aber sie stammt nicht vom Menschen ab; im Gegenteil: erst der transzendente Charakter des Gewissens lässt uns den Menschen und lässt uns im Besonderen seine Personalität überhaupt erst in einem tieferen Sinn verstehen. Der Ausdruck ‘Person’ würde in diesem Lichte nämlich eine neue Bedeutung gewinnen; denn wir könnten jetzt sagen: Durch das Gewissen der menschlichen Person per-sonat eine außermenschliche Instanz. Welche Instanz das sei, können wir von hier aus, allein im Zusammenhang mit der Ursprungsproblematik des Gewissens beziehungsweise mit dessen transzendenter Verwurzelung, nicht erschließen; sehr wohl aber lässt sich zumindest das eine behaupten: dass auch diese außermenschliche Instanz ihrerseits notwendig von personaler Seinsart sein muss – wobei sich von diesem ontologischen Schluss dann freilich auch zurückschließen lassen müsste auf das, was man die Ebenbildlichkeit der menschlichen Person nennt.”
Hierzu möchte ich dir sagen, dass mir immer klarer wird, wie wichtig die Klassik, also — die von Friedrich Schiller geforderte und begründete — Beschäftigung mit den universellen Werten des Schönen, Guten und Wahren sein dürfte. Denn was Viktor Frankl in diesem Zitat betont ist ein unmittelbarer Bezug auf die antike griechische Kultur. Die Schauspieler in den antiken Dramen trugen auf der Bühne des Amphitheaters Masken. Diese Masken nannte man Prosopon. Sie dienten einerseits zur Fokussierung auf die von der Rolle verkörperten Moral, andererseits dienten sie zur akustischen Verstärkung der Worte. Die Masken wurden im antiken Rom ebenfalls verwendet, dort nannte man sie Personae (per - sonare, hindurchtönen). In diesem Sinne verwendet Frankl den Begriff auch, wenn er darauf hinweist, dass sich durch das Gewissen (Seele) der menschlichen Person die transzendente Instanz (das Urbild, dem das Ebenbild nachempfunden wurde) ausdrückt (“per-sonat”).
Der Begriff Person ist allerdings auch bereits in den Briefen zur Ästhetischen Erziehung bei Schiller in dieser Weise gebraucht. Im Elften Brief heisst es:
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